Das erste Wiener Lesetheater wird 20

Der Literaturwanderzirkus

Das erste Wiener Lesetheater und zweite Stegreiftheater präsentiert selten gelesene Autoren, selten gelesene Texte bekannter Autoren und auch Texte, die gar nicht für die Bühne geschrieben worden sind. Die Wiener Institution wird heuer 20 Jahre alt.

Was haben Karl Kraus, Euripides, Theodor Kramer, Oskar Kokoschka, Nelly Sachs und Ruth Klüger gemeinsam? Dass sie von Lesetheater-Aktivisten wie Erwin Leder, Franz Schuh, Thomas Northoff, El Awadalla oder Franz Hütterer gelesen werden... Allein die Liste der behandelten Autoren wäre artikelfüllend, ganz zu schweigen von den Namen der rund 900 aktiven Mitglieder des Lesetheaters.

Dennoch wird das Erste Wiener Lesetheater und zweite Stegreiftheater - so der korrekte Name - vor allem mit einem Namen in Verbindung gebracht: Mit Lesetheater-Mitbegründer Rolf Schwendter. "Selbstredend: Ich war nicht allein", meint der emeritierte Universitätsprofessor, Autor und Liedermacher gleich ganz bescheiden. Und tatsächlich waren bekannte Namen wie Manfred Chobot, Brigitte Guttenbrunner, Evelyn Holloway, Ottwald John, Hansjörg Liebscher und Günter Nenning mit von der Partie.

Die ersten Testballons zu Leseaufführungen ließ allerdings Rolf Schwendter mit seinem "offenen Wohnzimmer" in den 1950er Jahren in Kassel steigen. Am 21. September 1990 fand mit Georg Kaisers "Von morgens bis mitternachts" die erste Veranstaltung der Wiener Institution statt.

Theater mit Dezentralitäts-Prinzip

Rolf Schwendter, Lesetheater-Mitbegründer

Unter Mitwirkung des Publikums

Das Lesetheater funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Jemand hat eine Idee, sucht sich dazu Texte, Mitwirkende, sowie einen Ort aus und bemüht sich um die Bewerbung der Veranstaltung. Auf diesem Weg wurde schon so mancher einfache Zuseher zu einem Mitwirkenden, wie das der Autor und Kleinkünstler Franz Hütterer in seinen Reflexionen zum Lesetheater beschreibt.

"Dezentralitätsprinzip" oder "Verantwortlichensystem" nennt Rolf Schwendter diese Art zu arbeiten, die einerseits die unheimliche Produktivität des Lesetheaters ermöglicht - immerhin rund zwanzig Aufführungen pro Monat - und gleichzeitig für eine Vielfalt innerhalb des Programms sorgt. Die gesunde Mischung aus Profis und Amateuren, sowie der Charme der Nichtperfektion sind bewusst gesetzte Stilmittel dieser im besten Sinne des Wortes volksbildnerischen Einrichtung. Auch der enge Kontakt des Lesetheaters zu Autoren ist ein wichtiges Charakteristikum dieser Einrichtung.

Wo immer man sie hören will

Den volkstheaterhafte Charakter der Stage-Reading-Performances unterstreichen auch die Austragungsorte des Lesetheaters, die von Büchereien über das Literaturhaus sowie Gasthäuser und Cafés bis hin zum Narrenturm reichen. Das Lesetheater sei eben ein Wanderzirkus und daran würde sich auch nichts ändern, wenn eine gute Fee kommen würde, um dem Lesetheater einen fixen Ort anzubieten, erklärt Rolf Schwendter.

Diese gute Fee kommt aber ohnehin nicht und das mobile Konzept kommt auch den Kunstförderkriterien entgegen. Mit einem Budget von rund 36.000 Euro jährlich muss das Lesetheater auskommen, davon kommen ein Drittel von Bund und Bezirken, ein Drittel von der Stadt Wien und ein Drittel aus Spenden, die bei jeder Veranstaltung gesammelt werden. 2007 wollte sich die Stadt Wien ohne Angabe von Gründen aus der Finanzierung zurückziehen. Nach einem Sturm der Entrüstung durch die zahlreichen Freunde des Lesetheaters, wurde diese Entscheidung allerdings wieder revidiert.

Texte, Texte, Texte

Das Beispiel zeigt deutlich, dass sich das Lesetheater auch beständig gegen eine Kategorisierung zwischen Literatur und Theater wehren muss, denn damals wurde es zwischen den jeweiligen Fördertöpfen hin und her geschoben. Texte, Texte, Texte sollen präsentiert werden, die Frage der Form tritt bei der Bühnenlesung in den Hintergrund.

Rolf Schwendter hätte schon gern ein bisschen mehr Geld für sein Projekt, weist aber darauf hin, dass viele kleine Kulturinitiativen durch die Schwerpunkt-Politik der Kunstförderung es noch schwerer hätten, an Geld heranzukommen. Nicht ohne Grund ist der Refrain seines Liedes über 20 Jahre Lesetheater: "Es ist nicht viel los in der Kulturpolitik, in der Kulturpolitik ist nicht viel los..."

Und so bleiben auch seine Wünsche für die nächsten 20 Jahre eher bescheiden: ein zunehmendes Interesse Jugendlicher, eine allgemeine Erweiterung des Publikums, möglichst wenige Intrigen und zumindest eine gleichbleibende Finanzierung. Aber, wie Rolf Schwendter auch einmal so schön sagte: Lesetheater ist, wenn die Lesenden selbst vom Fortgang der Handlung überrascht sind. In diesem Sinne ist ja noch alles möglich...

Service

Rolf Schwendter, "Lesetheater", Edition die Donau Hinunter

Ruth Aspöck (Hg.), "Alles Theater? AutorInnen im Gespräch", Edition die Donau Hinunter

Erstes Wiener Lesetheater und zweites Stegreiftheater