"Onkel Toms Hütte" im Hundsturm

Theater aus Estland

Unter dem Titel "Die Besten aus dem Osten" zeigt das Wiener Volkstheater regelmäßig Theaterarbeiten aus Ost- und Südosteuropa. In ihrer siebenten Ausgabe widmete sich die Reihe am vergangenen Wochenende dem zeitgenössischen Theater aus Estland. Die Theatergruppe NO99 gastierte in der Spielstätte Hundsturm und zeigte "Onkel Toms Hütte".

Kulturjournal, 29.11.2010

Mit schwarzen und weißen Masken, singend und auf Matratzen herumhüpfend: Auf diese Weise widmet sich das elfköpfige Ensemble von NO99 dem Roman "Onkel Toms Hütte". Der Klassiker von Harriet Beecher-Stowe aus dem Jahr 1852 gilt bis heute vielen als Werk, das die Welt verändert hat.

Der Roman berichtet vom grausamen Schicksal afrikanischer Sklaven in den USA und soll die Amerikaner nachhaltig aufgerüttelt haben.

Aktualität eines Klassikers

"Onkel Toms Hütte" werfe aber auch heute noch viele Fragen auf, meint der Regisseur und Co-Leiter von NO99, Tiit Ojasoo: "Die Sklaverei ist in den westlichen Ländern zwar Geschichte, aber irgendjemand muss die ganze niedrige Arbeit ja trotzdem machen. Gerechtigkeit gibt es auch heute noch nicht. Sehen Sie, wir haben in Estland eine rechtsgerichtete Regierung, und schon deshalb war es klar für uns, dass 'Onkel Toms Hütte' auch heute noch aktuell ist."

Stereotype Sprache

So politisch ambitioniert der Roman war, so rassistisch und Stereotype bedienend wirkt heute seine Sprache - ein Umstand, den die Gruppe NO99 in ihrer Inszenierung deutlich hervorkehrt. Schon öfter hat das von Tiit Ojasoo und seiner Kollegin Ene-Liis Semper geleitete Ensemble in seinem Herkunftsland für Irritierung gesorgt.

Die Theatersprache von NO99 ist für estnische Verhältnisse irritierend und neu. Vergangenen Frühling etwa erklärte die Gruppe, sie wolle eine politische Partei gründen, hielt Pressekonferenzen und Versammlungen ab. Eine Performance, die zeigen sollte, wie leicht sich die Öffentlichkeit manipulieren lasse. Und tatsächlich sprangen alle Medien auf, tagelang war NO99 in den Schlagzeilen.

Ein Zeichen dafür, wie konservativ das Theater in Estland nach wie vor sei, sagt Tiit Ojasoo: "Wir hingegen wollten von Beginn an Theater machen, das auch in anderen europäischen Ländern gezeigt werden kann. Eines unserer Ziele war, möglichst viel im Ausland zu spielen und zu sehen, ob es Anerkennung findet. In den letzten drei Jahren hatten wir über 50 internationale Gastspiele. Und das, obwohl wir eigentlich ein staatliches Repertoiretheater sind."

Theaterweltmeister Estland

Zwei Mal war die Gruppe NO99 bereits bei den Wiener Festwochen zu Gast - zuletzt mit der Performance "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt". Angelehnt an den Aktionskünstler Joseph Beuys, reflektierte das Ensemble über das Verständnis von Kunst und schuf nebenbei eine bissige Satire auf die estnische Kulturpolitik.

An sich hat die Kultur in Estland einen hohen Stellenwert. Gemessen an seiner Einwohnerzahl verzeichnet das nördlichste Land des Baltikums die meisten Theaterbesuche weltweit und wird in dieser Statistik nur von Island geschlagen. Doch die rechtskonservative Regierung versuche seit Jahren, mutige und kritische Kunst zu desavouieren, sagt Tiit Ojasoo. Sie benutze die Finanzkrise als Ausrede, das Kulturbudget Jahr für Jahr hinabzusetzen.

Schmutzige Kulturpolitik

Es sei freilich der einfachste Weg, die Kunstszene mit Geld auseinanderzudividieren und die Institutionen um die geringen Förderungen streiten zu lassen - es sei aber gleichzeitig die schmutzigste Art, Kulturpolitik zu machen, sagt Ojasoo. Er fürchtet, dass die Regierung auch das Kulturhauptstadtjahr in Tallinn dazu verwenden werde, Repräsentationskultur zu fördern und sich in ein positives Licht zu rücken - zumindest bis zum März des kommenden Jahres, wenn in Estland Parlamentswahlen anstehen.

NO99 wird 2011 freilich einige Beiträge liefern: Unter anderem wird die Gruppe am Rande der Altstadt ein Theaterhaus aus Stroh aufstellen und darin eigene und auswärtige Produktionen zeigen. Man habe lange für dieses Projekt kämpfen müssen, sagt Tiit Ojasoo.

Offener Schlagabtausch

Ein Kampf sei ja an sich nichts Schlechtes, so der Regisseur. Er bevorzuge aber einen offenen Schlagabtausch und nicht jene Art von stillem Krieg, den die Kulturszene ständig mit der Politik führe. Nach den Wahlen im März, hofft Ojasoo, werden sich die Politiker hoffentlich gegenseitig bekämpfen und die Künstler ihre Sache machen lassen.

NO99 wird jedenfalls noch länger keine Ruhe geben. Der Name steht für Nummer 99: Das Theater hat sich entschieden, 99 Arbeiten zu machen; mit jeder Produktion wird die Zahl um eins kleiner. Derzeit ist das Ensemble bei Nummer 73 angelangt. Geht es in diesem Tempo weiter, wird NO99 die estnische und internationale Theaterszene noch gut weitere 15 Jahre bereichern.

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