Neuer Roman von Michel Houellebecq

Karte und Gebiet

"Dieses Jahr hat ein Soziologe den Prix Goncourt gewonnen", titelte die französische Zeitschrift "L'Express" 2010, als Houellebecq den wichtigsten französischen Literaturpreis erhielt. "Karte und Gebiet" ist ein Werk über den Strukturwandel in Frankreich, die Rolle der Arbeit und der Kunst und die sozialen Umbrüche in Zeiten der Krise.

Wenn die Orientierung verloren geht, weil sich gewohnte Zusammenhänge und Sicherheiten auflösen, entsteht das Bedürfnis nach einer zuverlässigen Karte, die die Richtung weist, einem Katalog der Möglichkeiten, einer Liste vorhandener und verlorener Dinge.

Jed, Absolvent der Pariser Ecole des Beaux Arts, spürt diese Sehnsucht und verfügt über die Mittel, ihnen künstlerisch Ausdruck zu verleihen. Er versteht sich als Archivar menschlicher Produkte und der Verhältnisse, in denen sie entstehen. Nicht im marxistischen Sinne, sondern eher als Reflex auf seine desolate Familiensituation, die von schweren Verlusten gekennzeichnet ist.

Jed ist der Sohn einer Selbstmörderin. Er verlor seine Mutter, als er sieben war. Sein Vater weiß nichts mit ihm anzufangen, verschreibt sich voll und ganz seiner Arbeit als Architekt und auch er bringt sich am Ende um.

Beschreibung der Krise

Jed hat Erfolg als Künstler. Er legt elftausend Fotos von Industrieprodukten vor, fotografiert Michelin-Straßenkarten, die die Regionen Frankreichs wiedergeben, und malt prominente und weniger prominente Vertreter bestimmter Berufe. "Karte und Gebiet" von Michel Houellebecq ist eine Zustandsbeschreibung der französischen Gesellschaft, eine Beschreibung der Krise, die erst eine wirtschaftliche, aber in der Folge auch eine geistige ist.

"Wenn man ein Buch schreibt, dann um über Dinge von allgemeiner Bedeutung zu sprechen, damit sich viele Leser wiedererkennen", sagt Michel Houellebecq. Aber er hat mit "Karte und Gebiet" keine Orientierungshilfe gegeben, höchstens den Schlamassel bis zur totalen Verwirrung ausgeleuchtet, die Leere und Ratlosigkeit der französischen Mittelschicht. Das ist stellenweise deprimierend zu lesen, denn der Roman wächst nicht über sein Thema hinaus. Aber es wäre falsch, den Boten für seine Botschaft zu schelten.

Houellebecq wählt für seine Bestandsaufnahme die Form eines Vexierspiels. Er ist Autor und Romanfigur gleichzeitig, Mordopfer und allwissender Erzähler. Science-Fiction-Elemente wechseln sich ab mit Krimiplot und schnöden Produktbeschreibungen, wie man sie in Gebrauchsanleitungen und Werbetexten findet, und manche Stellen lesen sich wie Lexikonbeiträge.

Mehrere verknüpfte Erzählstränge

"Ich mag es, wenn ein Roman mehrere Ebenen hat und damit verschiedene Zugangsmöglichkeiten. Ich finde es gut, wenn man das Buch mehrmals lesen kann und mal dem einen, mal dem anderen Erzählstrang folgt", sagt Houellebecq.

Houellebecqs mit dem Goncourt-Preis ausgezeichneter Roman "Karte und Gebiet" hat mehrere, auf filigrane Weise miteinander verknüpfte Themen: Die Musealisierung Frankreichs, die Entleerung der Traditionen, das Verschwinden der Arbeit und die Selbstpreisgabe der Kunst. Der Zerfall der Familie, den Houellebecq auch in diesem Roman thematisiert, war auch in jedem der vorangegangenen vier Romane von zentraler Bedeutung. "Karte und Gebiet" ist eine aktuelle Bestandsaufnahme mit niederschmetterndem Ergebnis.

Sammler mit "enzyklopädischem Ehrgeiz"

"Wenn Sie ein Buch lesen, dann deshalb, um zu sehen, wie ein anderes menschliches Wesen die Welt begreift. Sie erwarten doch keine Richtlinien oder Anweisungen, sondern nur eine Spiegelung der Welt auf künstlerische Weise", meint Houellebecq.

Im neuen Roman nutzt Houellebecq für diesen Zweck die Figur eines Sammlers. Jed ist Fotograf und Maler mit "enzyklopädischem Ehrgeiz", wie es im Roman heißt, der nicht nur Industrieprodukte katalogisiert, sondern später auch eine 42-teilige Serie mit Vertretern der wichtigsten Berufe malt.

Darunter finden sich Titel wie "Bill Gates und Steve Jobs unterhalten sich über die Zukunft der Informatik" oder "Die Beate Uhse AG geht an die Börse" oder "Michel Houellebecq, Schriftsteller". Nur ein Bild will nicht gelingen. Der Titel: "Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf". Hirsts Gesicht war nicht das Problem, fand Jed. Er malte dessen Miene, gekennzeichnet von "Trash, Tod und Zynismus". Aber der höchst doppeldeutige Ausdruck von Jeff Koons Gesicht: "Es wäre nicht schwieriger gewesen, einen pornografischen Mormonen zu malen", heißt es im Roman.

Die Kunst, ein Missverständnis

Der Kunstmarkt, auf dem Jed nach gewissen Anlaufschwierigkeiten reüssiert, ist ein zentrales Thema des Romans. Zeitgenössische Kunst ist wieder zur Hofmalerei zurückgekehrt, ist Houellebecqs These. Die Geldfürsten der Welt beherrschen den Markt und erteilen Aufträge für standesgemäße Porträts.

Kunst ist zum Missverständnis geworden. Houellebecq nimmt seine eigene nicht aus. Im Roman stimmt er zu, für 10 000 Euro das Vorwort zu Jed Martins Michelin-Ausstellungskatalog zu schreiben. Warum er? Durch die Skandale, die jedes seiner Bücher nach sich zog, hat er sich ausreichend qualifiziert.

Der Lauf der Welt

Houellebecq persifliert sich in "Karte und Gebiet" als von Fußpilz befallenen Säufer, der vor Einsamkeit stinkt. Das ist so ziemlich die Quintessenz dessen, was seine Feinde im Literaturbetrieb tatsächlich von ihm denken. Und Houellebecqs Feinde sind scheinbar Legion, was der Auflage seiner Bücher, die regelmäßig bei einer halben Million liegt, nicht schadet.

"Die Literatur ist unverzichtbar für die Menschheit", findet Houellebecq. "Aber sie kann die Welt nicht verändern. Sie trägt keinerlei Verantwortung für den Lauf der Welt. Sie ist nur dafür da, sich dieses Laufs bewusst zu werden.

Der Lauf der Welt ist einer in die Falle der Globalisierung, sagt Houellebecq mit seinem neuen Roman "Karte und Gebiet". Die Karte des Landes Frankreich stimmt dabei nicht mehr mit dem Gebiet überein, denn es sind nicht mehr die Franzosen, die über ihr Land gebieten. Längst sind ihre Firmen von anonymen Hedge-Fonds aufgekauft – auch Michelin hat seine Zentrale dorthin verlegt, wo die größten Anteilseigner sitzen, nach Moskau. Die Käufer zeitgenössischer französischer Kunst heißen Abramowitsch oder Slim Helú. Die schönsten Dörfer der französischen Provinz sind nur noch menschenleere Kulissen, Investitionsobjekte für internationale Immobilienhändler. Das Gros solventer Touristen kommt aus Indien, China oder Russland.

Keine Provokation mehr

Houellebecqs neuer Roman umfasst eine Zeitspanne von ungefähr 40 Jahren. Er spielt in der nahen Zukunft, ohne dass der Autor Jahreszahlen angegeben hätte, einer Zukunft, in der nach der Finanzkrise des Jahres 2008 offenbar noch eine weitaus folgenreichere Wirtschaftskrise über Europa hereingebrochen ist. Zeitliche Orientierung geben allein die Altersangaben der vielen Prominenten aus der realen Welt, die in dem Roman eine Rolle spielen. So stirbt der Schriftsteller Frédéric Beigbeider, charakterisiert als warmherziger Beinahe-Freund Houellebecqs, am Ende mit 71 Jahren. Tatsächlich ist er derzeit 45 Jahre alt.

Der letzte Satz des Romans zeigt die milde Untergangsstimmung des Verfassers. Da heißt es: "Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon." Frankreich ist wieder zum Agrarstaat geworden.

Mit "Karte und Gebiet" hat Michel Houellebecq die Provokation als Haltung, die noch seine vorangegangenen Romane beherrschte, abgelegt. Vielleicht weil er hier seinen eigenen Untergang zelebriert. Ein kostbares Geschenk des Malers Jed wird ihm zum Verhängnis. Der Dieb des Gemäldes "Houellebecq, Schriftsteller" zerstückelt dessen Besitzer und verteilt Leichenteile und Blut in Form einer Reliefkarte auf dem Fußboden. Aber es ist eine Karte, die keinerlei Hinweise zur Aufklärung des Verbrechens liefern kann.

Service

Michel Houellebecq, "Karte und Gebiet", aus dem Französischen übersetzt von Uli Wittmann, Dumont Verlag