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"Sterben" von Karl Ove Knausgard

"Für das Herz ist das Leben einfach: Es schlägt, solange es kann. Dann stoppt es." Mit diesen harten Worten beginnt Karl Ove Knausgards Roman "Sterben". Was folgt ist eine Reflexion über den Tod: Herzstillstand, der tote Körper und die Verdrängung des Todes durch die Hinterbliebenen.

Und so manch Leser mag an den christlich-existenzialistischen Philosophen Blaise Pascal denken und an seine "conaissances du coeur", an sein "Herzwissen", das so ganz andere Einsichten im Leben liefert als die Vernunft. Aber egal! Was bei Knausgard als romanesker Essay über den Tod beginnt, endet abrupt nach ein paar Seiten.

Ohne Vorwarnung wird man plötzlich mit der Kindheit des Autors konfrontiert. Es geht um das Familienleben, die Nähe zur Mutter, das schwierige Verhältnis zum älteren Bruder und um das noch viel schwierigere zum Vater. "Min kamp", also "Mein Kampf" heißt Knausgards Roman auf Norwegisch. Das getraut sich natürlich ein deutscher Verlag nicht als Titel zu wählen. Doch dem Autor geht es tatsächlich um "seinen Kampf", das ist der Kampf, das eigene Leben richtig zu gestalten, und es ist der Kampf, sich von einer mächtigen Vaterfigur zu lösen.

Kindheit und Jugend

Der Vater ist Lehrer und gestrenger Atheist, den religiösen Anwandlungen seines Sohnes begegnet er mit Sarkasmus. Was aber dann aus der zarten Religiosität Knausgards geworden ist, als dieser im Roman einem als junger Mann entgegentritt, kann der Leser bestenfalls erahnen. Seite um Seite erzählt der Autor detailversessen von seiner Kindheit, seiner Jugend, der ersten dilettierenden Band, bei der er mitspielt. Von der ersten Zigarette über die ersten Besäufnisse und dem ersten Kuss bis zur ersten großen Liebe erfährt man wirklich alles - und man denkt: Komisch, so ähnlich war's auch bei mir. Doch das verbindet den Leser nicht wirklich mit dem Autor. Denn eine dumpfe Ärgerlichkeit beschleicht einem beim Lesen: So viel Banalitäten selbstsicher auf die Hälfte eines 575 Seiten starken Romans zu Papier zu bringen, ist starker Tobak.

Für den Autor drängt die wissenschaftlich erforschte Welt die literarische, künstlerische Fiktion an den Rand des Geschehens. Wie kann man denn noch an Fiktion und Utopien glauben, wenn die Naturwissenschaften das Recht auf Erkenntnis gepachtet haben?

Es mag ja sein, dass Karl Ove Knausgard weiß, wie er der Fiktion mittels Fiktion am Zeug flickt, nur sagt er es niemandem. Oder verhält es sich so, dass der harte Realismus in seinem Roman eine Fiktion darstellt, die eine andere, weichere, lyrischere und phantastischere Fiktion erfolgreich bekämpft? Dann wäre ja sogar sein Romanprojekt gelungen! Nur: Die detailversessene Nachbildung von Realität - also die Beschreibung eines Insekts, das schon jeder kennt - mündet in qualvolle Lesestunden.

Der Verfall eines Menschen

Doch an dieser Stelle ist eine Zäsur notwendig, denn der zweite Teil von Knausgards Roman ist viel besser gelungen. Plötzlich geht es konkret ums Sterben, um den Verfall eines Menschen, um das Hinterfragen menschlicher Würde. Knausgards Vater, diese übermächtige Lehrerfigur, verkommt. Die Beziehung zu seiner Frau ist gescheitert, er hat seinen Job verloren, letztlich zieht er sich in das Haus seiner Mutter zurück und wird zum Alkoholiker.

Als Karl Ove Knausgard und sein Bruder erfahren, dass der Vater gestorben ist, machen sie sich auf und betreten nach Jahren das Haus der Großmutter. Das Bild, das sich ihnen bietet, ist voll Grauen und Entsetzen. Die Inneneinrichtung ist teilweise verwüstet, überall liegen leere Bier- und Wodka-Flaschen herum, Kot und Urin kleben auf den Böden, dazwischen Stapel von verdreckten Tellern und Gläsern, zerrissenen Kleidungsstücken.

Einiges Unbenanntes

Nicht das Bekannte, Reale schafft Tristesse und Spannung, sondern ein Geschehen, das in seiner Unvorstellbarkeit an die Grenzen des Realen führt. Der Tod des Vaters, das langsame Ab-Sterben menschlicher Würde ist ein Lebens-Kampf der tragischen menschlichen Natur. Doch auch hier bleibt einiges Unbenannt: Weswegen ist Knausgards Vater auf diese Weise gescheitert? An keiner Stelle im Roman erfährt man etwas über die Bedingungen und Hintergründe dieses Verfalls. Und man hat fast das Gefühl, dass das detaillierte realistische Erzählen Knausgards aus Scham diesen tiefgründigen Aspekt ausblendet. Das ist das Problem autobiografischen Erzählens, das nicht schamlos auch noch das letzte Detail preisgibt. Denn literarische Fiktion ist schamlos, sie muss es sein, eben um harte Realität erzeugen zu können.

Service

Karl Ove Knausgard, "Sterben", aus dem Norwegischen von Paul Berf, Luchterhand Literasturverlag

Luchterhand - Sterben