Die Wutbürger

"Empört Euch!"

In Frankreich, ja mittlerweile auch in anderen Ländern Europas, ganz besonders in Spanien, ist ein Buch zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden. Ein nicht mal 30 Seiten starkes Bändchen, erschienen bei einem Kleinverlag, unter dem Titel: "Indignez- vous!" - "Empört Euch!".

Der Verfasser dieser Streitschrift ist der heute 94-jährige, in Berlin geborene Stephane Hessel - Widerstandskämpfer, Überlebender des KZs Buchenwald, Mitarbeiter beim Verfassen der Universellen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948, danach Botschafter der französischen Republik.

Ende Oktober 2010 war dieses Pamphlet gegen ungerechte Zustände in unseren Gesellschaften in einer Auflage von 8.000 Exemplaren erschienen - inzwischen ist es allein in Frankreich mehr als zwei Million Mal verkauft worden, wird in den nächsten Monaten sogar ins Chinesische übersetzt.

Wo alles begann

Alles begann auf der Hochebene von Glières in den Alpen, an einem der wichtigsten symbolischen Orte des französischen Widerstandes gegen Nazideutschland.

Im Mai 2009 stand Stephane Hessel dort auf einem notdürftig zusammen gezimmertem Podium und hielt eine Rede vor fast 5.000 Menschen, die sich versammelt hatten auf Einladung des "Verbandes der Widerstandsbürger von Gestern und Heute" - ein Verein, der aus der Empörung heraus gegründet worden war darüber, dass Nicolas Sarkozy diese Gedenkstätte des Widerstands nur zwei Tage vor seinem Wahlsieg 2007, ohne jede Absprache mit den ehemaligen Widerstandskämpfern, besucht - und sie damals zu seinem künftigen jährlichen Pilgerort erklärt hatte. Seitdem gibt es, am selben Ort, jedes Jahr eine Gegenveranstaltung, deren Teilnehmer Präsident Sarkozy vorhalten: ihre Politik, Herr Präsident, ist mit dem Esprit und den Grundwerten des französischen Widerstands nicht vereinbar.

Dort sagte Stephane Hessel vor zwei Jahren: "Der zivile Ungehorsam und die Überzeugung, dass die Grundwerte über den Gesetzen stehen müssen, sind Bestandteile unseres staatsbürgerlichen Widerstandes. Widerstehen heißt, die Ehrlosigkeit abzulehnen und sich zu empören, wenn etwas vorgeschlagen wird, was den Grundwerten widerspricht, was nicht akzeptabel und skandalös ist."

Aus dieser Rede ging 18 Monate später das kleine Bändchen mit dem Titel "Empört euch" hervor. Darin unterstreicht der distinguierte und extrem höfliche Stephane Hessel, ein Mann mit sanfter Stimme und unendlich freundlichem Blick, dass der Nationale Rat des Widerstands nicht nur das Ziel hatte, Frankreich zu befreien, sondern 1944 für die Zukunft des Landes auch ein Sozialprogramm erarbeitet hatte, welches neben einer Verstaatlichung der Großbetriebe und der Banken auch eine weitgehende soziale Absicherung vorsah.

"Warum jetzt nicht mehr?"

Dieses Fundament der sozialen Errungenschaften der Résistance, so Hessel, ist heute bedroht. Man wage es, so schreibt er, zu sagen, der Staat könne heute die Kosten für die Beibehaltung dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie, so seine Frage, kann heute das Geld fehlen, wo die Produktivität seit Kriegsende um ein vielfaches gestiegen ist, während Europa damals doch in Trümmern lag?

"Vielleicht das erste, das wichtigste ist die Übermacht von dem Finanzkapital, Natürlich sagt man immer noch: Menschenrechte, Freiheiten, aber man ist von der Marktgesellschaft, der Finanzmarktgesellschaft so überkommen worden in den letzten 10, 20 Jahren, dass man an diese Werte irgendwie nicht mehr denkt . Man weiß, sie stehen da irgendwo. Und wenn dann einer, der so alt ist , wie ich, der den Widerstand als ein junger Mann gekannt hat, wenn der sich daran erinnert, dass es damals Werte gab, die wir bekräftigen wollten, und wir waren glücklich, dass unsere Regierungen diese Werte nach dem Krieg irgendwie auch geleistet haben, dann sagt man sich : warum jetzt nicht mehr? Warum sind wir jetzt in dieser globalen Gesellschaft von anderen, weltweiten Bestimmungen gehalten?"

Plädoyer gegen Resignation und Gleichgültigkeit

Stephane Hessel empört sich seit Jahr und Tag über die Allmacht des großen Geldes, die er als Bedrohung für die Demokratie bezeichnet und - selbst ein Immigrantenkind - auch über den Umgang mit Fremden und Ausländern in unseren westlichen Gesellschaften. Seine kleine Schrift ist ein Plädoyer gegen Resignation und Gleichgültigkeit, keinesfalls ein politisches Programm, eher ein Appell, nachzudenken.

Hessels Buch hat in Frankreich jedenfalls einen Nerv getroffen und ist auf bereits fruchtbaren Boden gefallen: schließlich ist hierzulande die globalisierungskritische Organisation ATTAC aus der Taufe gehoben worden, existiert das sozial, geographisch und politisch sehr breit gestreute " Netzwerk für Erziehung ohne Grenzen", in dem abertausende Eltern dagegen kämpfen, dass ausländische Schulkameraden ihrer Kinder ohne gültige Papiere aufgegriffen und ausgewiesen werden.

Es gibt eine Organisation von "Lehrern im Widerstand", die sich weigern, bestimmte Schulprogramme anzuwenden, weil sie sie für schädlich halten oder die Organisation "Jeudi Noir", die mit viel Phantasie gegen die katastrophale Situation auf dem französischen Wohnungsmarkt agiert - diese und viele andere Organisationen setzen bereits um, was Stephane Hessels kleines Buch suggeriert.

Als es vergangenen Oktober erschien, brachen in Tunesien und Ägypten kurz darauf dann auch noch die Volksaufstände aus. Mittlerweile treffen sich auch in Frankreichs Stadtzentren, wie in Spanien und Griechenland, die ersten jungen Menschen, die "Empörten". In Paris wählen sie - die Revolution von 1789 lässt grüßen - den Platz der Bastille und skandieren das Wort: Résistance, Widerstand.