Multi-Kulti in der Vorstadt

Balkanmeile Ottakringer Straße

"Jetzt sind wir im Reisebüro Ottakringer Straße, einer ehemaligen Videothek, davor war es ein Elektroladen, davor ein Tanzcafé und jetzt ist es temporär das Reisebüro Ottakringer Straße", stellt Antonia Dika das Geschäft in der Ottakringer Straße 45 vor.

Allerdings werden hier, in dem geräumigen Straßenlokal, keine Fernreisen vermittelt, sondern Erkundungen der unmittelbaren Umgebung in einem lebendigen und bunten Wiener Bezirk.

Reisebüro für Bezirkserkundung

Seit zwei Jahren wird das Reisebüro Ottakringer Straße von Antonia Dika und der lokalen Gebietsbetreuung als Ort der Begegnung geführt. Ausflüge in Turbofolk-Discos standen ebenso auf dem Programm wie Veranstaltungen von Bürgerinitiativen. Zuletzt war hier eine öffentliche Nähwerkstatt auf Zeit eingerichtet.

Durch die Zusammenarbeit mit Anrainern und Geschäftsleuten hat Antonia Dika die Straße zu schätzen gelernt. Besonders ein Fan-Artikel-Geschäft mag sie, "das Roter Stern Belgrad und Partisan Belgrad gleichzeitig mit Fan-Artikeln versorgt, und zwar, weil das in Belgrad selbst nie gehen würde, weil die beiden Erzfeinde sind. Hier in Wien auf der Ottakringer Straße funktioniert das."

Geschäftsstraße mit Nahversorgung

Erkenntnisse über die Entwicklung der Ottakringer Straße und Beobachtungen der letzten zwei Jahre sind in ein Buch eingeflossen, das nun im Verlag Turia und Kant erschienen ist. Mit herausgegeben wurde der Reiseführer "Balkanmeile. Ottakringer Straße" von der Stadtforscherin Elke Krasny.

"Das ist einfach eine klassische Ausfallsstraße", meint Krasny. Es herrsche "unglaublich viel Verkehr" und werde trotzdem "von Fußgängerinnen viel benutzt." Die Ottakringer Straße sei "eine immer noch funktionierenden europäischen Geschäftsstraße mit dem Modell der Nahversorgung", also nicht dominiert von globalisierten Ketten, sondern "im Grunde genommen ganz stark von Einzelunternehmer/innen, die hier schon unterschiedlich lange ihre Geschäfte betreiben."

In Ottakring zu Hause

"Unsere Straße hat sich selber aufgerappelt, auch dank vieler Zuwanderer, die am Tag 14, 16 Stunden arbeiten", meint Radovan Tomas, der mit seiner Frau das weit über die Grenzen des Bezirks bekannte Geschäft "Rado Sport" auf der Ottakringer Straße 59 betreibt. Der gebürtige Bosnier ist ein Ottakringer Lokalpatriot: "Durch Zufall war meine erste Wohnadresse drei Häuser weiter." Dann ist er in den 20. Bezirk gezogen, in den 3., anschließend in den 15. Bezirk, "und jetzt sind wir wieder im 16., und da sind wir zu Hause. Das ist schon was Tolles", so Tomas.

In Wien, meint er, gibt es eigentlich nur mehr drei funktionierende Geschäftsgegenden: die Inneren Stadt, die Mariahilferstraße und eben die Ottakringer Straße.

Kroatische Fußball-Touristen im serbischen Lokal

Dennoch hat die sogenannte Balkanmeile nicht das Renommee, das ihr gebührt. Bis zum Jahr 2008 galt die Ottakringer Straße in den Medien als "ein Extrem von Gefahr, Krawall, Kriminalität - die gefährlichste Straße Wiens", sagt Krasny. Mit der EM änderte sich aber auch die mediale Darstellung.

Als 2008 in Wien die Fußball-Europameisterschaft abgehalten wurde, zeigte sich, was die Ottakringer Straße zu bieten hat: Während auf der offiziellen Fanmeile in der Innenstadt, bei überhöhten Getränkepreisen und unter argwöhnischer Beobachtung durch Security-Bedienstete, kaum Stimmung aufkam, fand die wahre Fußball-Party hier in Ottakring statt, wo österreichische Türken, Serben, Kroaten und Fußball-Touristen gemeinsam feierten.

"Viele kroatische Fans, aus Deutschland zum Beispiel, waren begeistert vom multikulturellen Leben in Wien", sagt Rado. "Die hätten sich nie vorstellen können, sie kommen nach Wien, feiern ihre Mannschaft - das kroatische Nationalteam - und sitzen in einem serbischen Lokal, und dass das ganz normal ist in Wien. Das war eine tolle Party bei uns!"

service

Antonia Dika, Barbara Jeitler, Elke Krasny und Amilia Sirbegovic, "Balkanmeile. Ottakringer Straße. 24 Stunden: Ein Reiseführer aus Wien. Lokale Identitäten und globale Transformationsprozesse", Turia & Kant Verlag

Turia & Kant - Balkanmeile