Die Geschichte der Peinlichkeit

Blamage!

In seinem neuen Buch "Blamage!" rollt der deutsche Autor und Kunsthistoriker Christian Saehrendt "die Geschichte der Peinlichkeit" neu auf. Darin untersucht er die häufigsten aktuellen Fettnäpfchen und die berühmtesten Blamagen vergangener Jahrhunderte.

"Ist denen gar nichts mehr peinlich?" Diese Frage hört man immer öfter. Wenn Politiker Sex-Partys feiern, Doktorarbeiten abschreiben oder mit dem Geld der Schwiegermutter im Sackerl durchs Land reisen. Wenn A-, B- und C-Promis mit blamablen Versprechern, erotischen Fehltritten oder geschmacklosen Auftritten wieder einmal für Kopfschütteln oder gar für das oft beschriebene "Fremdschämen" sorgen.

Spontan möchte man diese Frage mit einem klaren "Ja" beantworten. Doch damit würde man einen weiteren Trend völlig außer Acht lassen: die fast schon panische Angst vor Fettnäpfchen.

Lähmende Versagensängste

Während die "Schwindler, Bluffer und Blender", nachdem sie erwischt werden, einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen, ziehen sich die "peinlich Berührten und Schüchternen" immer öfter zurück, um ja keinen Fehltritt zu begehen. Für diese Zeitgenossen ist der Druck, sich öffentlich korrekt zu benehmen, so groß, dass ihre Versagensängste vollkommen lähmend wirken.

Hikikomori nennt man in Japan Menschen, die sich aus sozialphobischen Gründen völlig in die eigenen vier Wände zurückgezogen haben. Man schätzt ihre Zahl auf bis zu 700.000. Diese extreme Polarisierung, so der Autor Christian Saehrendt, zeigt, dass das Peinlichkeitsempfinden nach wie vor eine überaus starke Emotion ist. Doch was geschieht bei einer Blamage überhaupt mit uns?

Hochnotpeinlich

Das Wort "peinlich" kommt vom englischen "pain", also Schmerz. Die "peinliche Befragung" war vor Jahrhunderten noch ein gängiger Ausdruck für Folter. Körperliche Maßregelungen im Justizwesen nahmen im Laufe der Zeit ab.

In der bürgerlich geprägten Gesellschaft wurde das Faustrecht abgelöst durch Werte wie Reputation, Vernetzung und Bildung. Wer hier nicht entsprach, hatte Grund zur Scham. Der Gesichtsverlust wurde oft zur existenziellen Bedrohung.

Tomate statt Kopf

Der Autor widmet auch den bekannten körperlichen Reaktionen auf Blamagen ausreichend Raum. Stottern, Schwitzen oder Erröten beschreibt er als wesentliche Signale der Beschwichtigung und des "Wunsches nach Reintegration in die Gesellschaft". Diese Gefühle sind deshalb so heftig, weil sie - wenn auch nur für wenige Sekunden des Schämens - archaische Panik zum Vorschein bringen.

Eine typische Reaktion auf die öffentliche Bloßstellung ist der spontane Wunsch nach Unsichtbarkeit, ausgedrückt durch Ducken, Wegschauen oder Bedecken der Augen.

Pleiten, Pech und Pannen

Während die Scham als treue Begleiterin des Narzissmus beschrieben wird, gilt die Schadenfreude als kleine, böse Schwester der Peinlichkeit. Je stärker wir uns genieren, desto mehr freuen wir uns über die Missgeschicke anderer.

Ein wesentlicher Bonus des Buches sind die zahlreich dazwischen gestreuten Anekdoten von Pannen mehr oder weniger Prominenter. Das Gute daran: Der Leser kann gleich einmal an sich selbst testen, wie stark er zu Schadenfreude neigt. Ein Beispiel gefällig?

Der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher sollte bei einem Vortrag in Wien laut Manuskript sagen: "Wir sind die Vorhut der europäischen Einigung". Obwohl er besonders darauf achtete, sich nicht zu versprechen, passierte es trotzdem und er musste sich selbst sagen hören: "Wir sind die Vorhaut der europäischen Einigung". Lauthals losgeprustet hat übrigens niemand in der höflichen Zuhörerschaft. Schließlich gilt die offen zur Schau gestellte Schadenfreude ebenfalls als peinlich.

Bürgerliche Spaßbremse

Das Buch "Blamage" funktioniert übrigens auch als eine Art Knigge. In fünf Unterkapiteln mit dem Titel "Panorama der Peinlichkeiten" erklärt der Autor, was Menschen heutzutage alles peinlich ist. Erotische Desaster, Kommunikations-Fauxpas, unkontrollierte Körperfunktionen, blamable Outfits und vieles mehr dienen als vergnügliches Anschauungsmaterial, das einem zu vermeiden hilft, selbst in Fettnäpfchen zu treten.

Doch dem Selbstbewussten und dem Freiheitsliebenden wird dies alles egal sein. Auch wenn das Peinlichkeitsempfinden das Leben kultivierter, kontrollierter und auch konfliktfreier gemacht hat, wirkt es vielfach als bürgerliche Spaßbremse. Denn wie lebenswert ist unser Dasein, wenn man sich vor lauter Angst vor der Blamage gar nichts mehr traut. Christian Saehrendt entlarvt diese Furcht vor dem Fehltritt auch als freiwillig auferlegtes Korsett der Mittelschicht, die Etikette als lächerliche Abgrenzung des Bürgertums nach oben und nach unten.

"Blamiert euch!", ruft er seinen Lesern aufmunternd entgegen. Denn in der Blamage liege auch eine Art der Befreiung. Schließlich ist eine der größten Stärken des Menschen das Bekennen seiner Schwächen.

Service

Christian Saehrendt, "Blamage! Die Geschichte der Peinlichkeit", Bloomsbury Berlin

Berlinverlag - Blamage!