Erzählungen von Richard Berczeller

Fahrt ins Blaue

1902 wurde Richard Berczeller in Sopron geboren. Nach dem Sturz der Räteregierung musste seine Familie Ungarn verlassen und siedelte sich in Sauerbrunn an. Richard Berczeller studierte Medizin in Wien, war dann praktischer Arzt im Burgenland - bis die Nationalsozialisten die Macht in Österreich übernahmen.

Bereits im März 1938 wurde Berczeller verhaftet – und nur unter der Auflage freigelassen, Österreich innerhalb von zwei Wochen zu verlassen.

Short-Storys für den "New Yorker"

Die Flucht ging zuerst nach Frankreich, dann an die Elfenbeinküste, wo Berczeller aber an Tuberkulose erkrankte und deshalb wieder nach Frankreich zurückging. 1941 gelang der Familie die Ausreise in die USA, wo Richard Berczeller als Arzt praktizierte. Und irgendwann in den 1960er Jahren begann, sein Leben aufzuschreiben.

Er erzählte Geschichten von einer Welt, die mit der Machtübernahme Hitlers ein für allemal versunken ist. Und schickt diese an den "New Yorker". Das damals wie heute wohl beste Magazin der Welt. Und das Unerwartete geschieht: Der "New Yorker" publiziert Berczellers Erinnerungen.

Zwischen 1963 und 1974 veröffentlicht Richard Berczeller zehn Geschichten im "New Yorker". Und diese haben bis heute nichts von ihrer Überzeugungskraft verloren. Berczeller schreibt präzise und unterhaltsam. Kein falsches Pathos ist in den Texten zu finden, nichts Weinerliches. Hier bringt ein Chronist seine eigene Geschichte zu Papier – die zugleich die Geschichte des Untergangs Österreichs ist.

Fahrt ins Ungewisse

In der ersten Erzählung des Bandes, die dem Buch auch den Namen gibt, berichtet Berczeller von den sogenannten "Fahrten ins Blaue". Die waren damals der letzte Schrei in Wien. Es handelte sich dabei um Sonntagsausflüge, die vom Wiener Westbahnhof abfuhren. Die Passagiere kauften eine Fahrkarte, ohne zu wissen, wohin die Reise ging. Am Ankunftsort erwartete sie ein Unterhaltungsprogramm, mit Blaskapelle und Essen. Karten für diese Fahrten waren begehrt und rar.

Richard Berczellers eigene "Fahrt ins Blaue" führte ihn nach Melk und noch Jahre später erinnerte er sich gerne an diesen schönen Tag. Als Berczeller aber seine Schulfreunde Otto und Bruno zufällig 1940 in Paris traf, sagte Bruno: "Fahrten ins Blaue, pahh. Das war doch eine Gemeinheit, der reinste Betrug."

Die beiden Eisenstädter hatten ein halbes Jahr für ihre Fahrt gespart. Schon einen Tag vorher machten sie sich von der burgenländischen Hauptstadt auf nach Wien, um nur ja nicht ihren Ausflug zu versäumen. Am Sonntagmorgen fuhr der Zug ab, die Rollos wurden vom Schaffner heruntergezogen, damit die Gäste nicht wussten, wohin die Reise ging. Als nach eineinhalb Stunden die Rollos wieder hochgezogen wurden, sahen Bruno und Otto, wo sie gelandete waren: im heimatlichen Eisenstadt – begrüßt und verspottet von ihren Freunden.

Im Grunde erzählt Berczeller hier ein amüsante Geschichte; nur um dann im letzten Absatz die ganze Tragödie des Zweiten Weltkrieges in einem einzigen Satz einzufangen. Als Berczeller nämlich einen alten Freund trifft und diesen fragt, ob er etwas von Bruno und Otto wisse, erzählt dieser, dass die beiden in einem Güterwaggon nach Auschwitz gebracht worden waren. Und als die SS-Truppen die Eisentüren zuschoben, sagte Bruno zu Otto: "Wieder so eine Fahrt ins Blaue."

Zu früh gestorben

Großartig die Erzählung "Die Revanche". Da berichtet Berczeller von seinem Onkel, den er sehr geliebt hat, der aber glühender Deutschnationaler war. Berczellers Vater hingegen war glühender Sozialist. Und so kam es zwischen den beiden Brüder immer wieder zu politischen Auseinandersetzungen, die damit endeten, dass Richards Vater seinem Sohn verbot, den Onkel zu besuchen.

Der Erste Weltkrieg geht verloren, was den Onkel sehr trifft. Am Sterbebett noch sagt er zu Richard Berczeller: "Der Tag der Revanche wird kommen. Die deutsche Armee - unsere Armee - wird wieder marschieren." Und trocken notiert Berczeller: "Im September 1929 starb er im Schlaf - zehn Jahre zu früh."

So wie sein Vater hatte auch Richard Berczeller enge Verbindungen zu den Sozialisten - vor allem zu jenen im Burgenland. Fred Sinowatz war ein enger Freund und Berczeller erhielt 1985 die Viktor-Adler-Medaille, die höchste Auszeichnung die die österreichischen Sozialdemokraten zu vergeben haben.

Zeitlose Geschichten

Am meisten verblüfft an diesen nun endlich auf Deutsch erschienen Erzählungen ihre Zeitlosigkeit. Obwohl vor fast 50 Jahren publiziert, haben die Geschichten nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren - was damit zu tun hat, dass Berczellers Stil durch und durch modern ist. Er erzählt prägnant, stets der Handlung verpflichtet. Und trotz allem persönlichen politischen Engagement, verzichtet Berczeller in seinen Geschichten auf den moralisch erhobenen Zeigefinger.

Service

Richard Berczeller, "Fahrt ins Blaue", aus dem Englischen übersetzt von Jacqueline Csuss, Czernin Verlag

Czernin Verlag - Fahrt ins Blaue