Dzevad Karahasan beim Literaturfest Wachau

Am vergangenen Wochenende wurde bei den Europäischen Literaturtagen in Spitz an der Donau deutlich, wie viele Facetten dieser Kontinent und vor allem auch wie viele Facetten das Wort "Krise" hat – etwa wenn Dzevad Karahasan, der wohl bedeutendste bosnische Gegenwartsautor, vom Leben im Nachkriegs-Sarajewo berichtet.

Morgenjournal, 24.9.2012

Heckenschützen und Granateinschläge, Wohnen in Ruinen, kein fließendes Wasser, nur selten Strom, 1425 Tage gefangen in der eigenen Stadt – vor 20 Jahren hatte die Belagerung von Sarajewo begonnen, die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts. Heute sehnen sich die Menschen nach dieser Zeit zurück, sagt Dzevad Karahasan.

Von einer zersplitterten Gesellschaft berichtet jetzt Dzevad Karahasan, von Kriegsgewinnler und Kriminellen, von verbitterten, enttäuschten, invaliden Kriegsverlierern, von jenen, die alles verloren haben und auf den Tod warten, vom großen Heer der Arbeitslosen und den Alten, die sich nach der Tito-Zeit zurücksehnen.

Ein Denkmal für Sarajewo

Dzevad Karahasan hat der Universität von Sarajewo Dramentheorie gelehrt, 1993 ist er aus der umkämpften Stadt geflohen, heute lebt er in Sarajewo und Graz.

In Romanen und Essays hat er dem multikulturellen Sarajewo ein Denkmal gesetzt – dem einst viel gerühmten "Jerusalem des Balkans". Diese kulturelle Substanz werde durch das Abkommen von Dayton schändlich ignoriert, sagt Dzevad Karhasan.

Das "Nachbild" eines Ortes

Während der ersten Kriegsmonate hatte Dzevad Karahasan die fortschreitende Zerstörung Sarajewos in einer sehr persönlichen Chronik dokumentiert, "Tagebuch der Aussiedlung" heißt das Buch, das ihm auch international große Anerkennung brachte. Seit damals, sagt er, schreibt er an dem was er das "Nachbild Sarajewos" nennt und das meint er nicht nur auf den konkreten Ort bezogen.

Er selbst sei vor allem damit beschäftigt, die Welt von heute zu verstehen, sagt Dzevad Karahasan, literarisch weicht er in die Vergangenheit aus – sein aktuelles Romanprojekt hat er im 11. Jahrhundert angesiedelt.

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