Spannender Roman von Lena Gorelik

Die Listensammlerin

Sofia macht sich Sorgen. Die Großmutter ist dement, lebt in einem Pflegeheim, wird künstlich ernährt und hat nicht mehr lange zu leben. Die kleine Tochter muss bald eine schwierige Operation überstehen, sie kam mit einem halben Herz zur Welt. Und sie selbst ist eine Schriftstellerin, die eine Schreibblockade quält und nicht so recht weiß, was sie zu Papier bringen soll...

Da helfen nur: Listen. Sofia hat Listen mit typischen Großmutter-Sätzen und guten ersten Sätzen für einen Roman, Listen mit Büchern, die sie zum Weinen und Büchern, die sie zum Lachen gebracht haben, Listen mit filmreifen Szenen aus ihrem Leben und Listen mit "leicht skurrilen Charakterköpfen" in ihrem Umfeld, sie hat Wunschlisten, Namenslisten, Essens- und Menschenlisten, Listen mit Schimpfwörtern, mit peinlichen Kosenamen und Listen mit Dingen, die sie nie hat sagen wollen. "Ich glaube, Woody Allen würde meine Listen mögen", sagt Sofia, eine "Neurotikerin, aus Überzeugung sozusagen", die den Listentick schon als Kind entwickelte - und durchaus stolz darauf ist: "außer mir", glaubt sie, schreibt "niemand so viele Listen, niemand ordnet, niemand pflegt sie". Sofia ist "die Listensammlerin".

"Für sie ist das immer etwas, woran sie sich festhalten kann", sagt Lena Gorelik. "Wenn ihr alles zu viel wird, wenn sie gestresst ist oder wenn sie traurig ist, dann beschäftigt sie sich erst mal mit diesen Listen, weil es sie beruhigt, und sie entflieht damit natürlich für eine kurze Zeit der Realität. Für sie, die als Mensch sehr emotional ist und sehr an sich selbst zweifelt, bringt es eine Art Ordnung in ihr Leben."

Alltags- und Tabubereiche

"Die Listensammlerin" von Lena Gorelik ist ein wunderbar flüssig geschriebener Familienroman mit zwei separaten, parallel geführten Handlungssträngen, er spielt in Gegenwart und Vergangenheit, in Deutschland und Russland, in Alltags- und Tabubereichen.

Sofia, von der der eine Handlungsstrang erzählt, gelangte vor mehr als drei Jahrzehnten mit Mutter und Großmutter aus Russland nach Deutschland, heute lebt sie mit ihrer Familie in München. Ihr Vater kam kurz nach ihrer Geburt ums Leben, ihr späterer Stiefvater, ein deutscher Tolstoi-Spezialist und Ex-Kommunist, der in Moskau studierte, gilt als "Erretter" der Familie.

Zu Beginn der Geschichte begegnen wir einer genervten, schlecht gelaunten, mit sich und der Welt unzufriedenen Sofia. Eher widerwillig besucht sie das Pflegeheim und kann den Anblick ihrer greisen Großmutter kaum ertragen: "eklig sah sie aus", sagt Sofia, "als hätte sie ihr Gehirn und ihre Persönlichkeit ausgekotzt". Beim Ausmisten von Großmutters Wohnung entdeckt die Listensammlerin eine alte Schatulle mit vergilbten Papieren, auf denen in kyrillischer Schrift Listen notiert waren. "Erst war ich überrascht, dann schockiert, dann glücklich", sagt Sofia, "ich traute mich kaum, die Listen anzufassen." Der Leser weiß inzwischen, was Sofia noch nicht wissen kann: Sie sind die Hinterlassenschaft von Grischa, ihrem Onkel.

"Ich hatte irgendwann diesen Grischa im Kopf", so Lena Gorelik. "Ich hatte diesen etwas verrückten, sehr ideenreichen, sehr spannenden Menschen im Kopf. Und dachte, ich hätte gern so einen Onkel gehabt."

Grischa, der Sonderling

Genauso überzeugend wie die Figur der Listensammlerin Sofia gelingt Lena Gorelik die des Sonderlings Grischa, von dem der zweite, in der Sowjetunion spielende Handlungsstrang erzählt. Grischa ist Künstler, Clown und Dissident, ein Träumer, Schwadroneur und Möchtegern-Weltverbesserer, unangepasst - und homosexuell.

Er ist einer, der sich nicht bevormunden lässt, der das Gefasel von Gleichheit und neuem Sowjetmenschen durchschaut. Geboren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, eckte er schon in der Schule an: Er malte gut, aber er malte falsch, die Perspektive war nicht opportun, die Menschen auf seinem Bild hatten "übergroße rote Halstücher und keine Gesichter".

"Das ist jemand, der schon als Kind aufgefallen war, weil er unglaublich viele Fragen stellte, auch kritische Fragen", sagt Lena Gorelik, "sich nie - er ist in den 50ern und 60ern aufgewachsen - einlullen lassen ließ von der sowjetischen Propaganda, der einfach sehr viel selbst gedacht hat, was nicht willkommen war. Und er entlarvt das System eigentlich relativ früh schon als Kind, mit dem Hinterfragen, damit, dass er die Dinge nicht so hinnimmt, wie sie ihm gesagt werden."

Unrecht aufzeigen wollen

Dieser Grischa machte der Familie Angst. Für seine Mutter ist er das Sorgen- und Lieblingskind zugleich, begabt und unberechenbar. Diesem Querkopf, der sich in verschiedensten Berufen versuchte, genügt es bald nicht mehr, sich mit Gleichgesinnten zu treffen, Samisdat-Bücher zu lesen und auf das System zu schimpfen. Er träumt von der großen Aktion, einem kühnen Plan.

Er erfährt von der Existenz des "gelben Hauses", verschafft sich Zutritt zu ihm - und ist schockiert: Hier werden Kriegsverletzte, Behinderte und psychisch Kranke weggesperrt, Greise, Waisenkinder und Dissidenten. Er will dem Westen den wahren Sowjetkommunismus zeigen - und Fotos dieser Menschen machen. "Das Unrecht zeigen will ich", sagt Grischa. "Die Fehler im System! Der ganzen Welt will ich es zeigen!"

"Für mich ist das tatsächlich eine Verzweiflungstat", so Lena Gorelik. "Weil er das Gefühl hat, er ist an einem Punkt angekommen, wo es nicht weitergeht. Und sicher ist ihm unterbewusst auch klar, dass das nicht unbedingt durchschlagen müsste. Aber er hat das Gefühl, entweder ich probiere es, und wenn ich dabei draufgehe, dann ist das so... Und er sieht auch keinen anderen Weg. Er sieht für sich keinen Weg, in diesem System zu leben. Er sieht auch keinen Weg, seine Liebe zu Männern auszuleben. Er sieht keinen Weg für sich beruflich. Er weiß einfach nicht wohin."

Exempel statuiert

Der Plan fliegt auf. Grischa wird verraten, vor Gericht gestellt, verurteilt und in ein Arbeitslager geschickt, von dem man weiß: aus diesem gibt es kein Zurück; "sie mussten ein Exempel statuieren", begreift Grischa. Mit ihm verschwindet auch sein Schwager, Sofias Vater, sein Komplize. Die Familie fällt in Ungnade, Mutter und Schwester emigrieren nach Deutschland - und tilgen Grischa aus ihrem Bewusstsein. Sofia sollte nie erfahren, dass sie einen Onkel hatte.

"Ich glaube, das hat einfach mit Ängsten zu tun, die nie aufhören, wenn man in einer solchen Gesellschaft aufgewachsen ist", meint Lena Gorelik. "Das ist, glaube ich, aber auch eine Generationenfrage und auch eine Frage, aus welchem System komme ich. Die kommen ja aus einer Welt, da spricht man über nichts. Man spricht übers Wetter und über Alltagsdinge. Aber man spricht nicht über diese Art von Emotion, nicht über Ängste, man spricht über nichts, was nicht ins System passt. Und erst recht nicht über so jemanden."

Fragen stellen, Fragen ausweichen

Am Ende wird die greise Großmutter gestorben sein, Sofia und die Ihren in banger Erwartung der Operation der kleinen Tochter entgegensehen und die Listensammlerin sich abzulenken und zu beruhigen versuchen mit verbesserten und neuen Listen. "Listen gehörten nicht abgeschlossen, sondern in Ewigkeit weitergeführt", sagt sie, nimmt die Schatulle mit Grischas alten Papieren zur Hand und fängt im Krankenhaus an, etwas in den Laptop zu tippen - das, was sie über ihren lange totgeschwiegenen Onkel Grischa herausgefunden hat, über das kurze Leben des anderen Listensammlers.

"Sie weiß ja immer noch nicht alles", so Lena Gorelik. "Ob ihr jemals jemand alles erzählen wird, ist fraglich. Aber da sie Schriftstellerin ist, kann sie das, was man ihr nicht erzählt, dazu erfinden."

Gekonnt verschränkt Lena Gorelik in ihrem Roman zwei Perspektiven, lässt in der Ich-Form die gereizte und besorgte Sofia erzählen - und schildert in der dritten Person die Abenteuer des Rebellen Grischa während und nach der Stalin-Ära. "Die Listensammlerin", der mittlerweile fünfte Roman der 32-jährigen Autorin, imponiert durch eine geschickte Dramaturgie, warmherzig gezeichnete Figuren und eine lebendige Sprache, die den Ton der Verzweiflung genauso souverän trifft wie den der Genervtheit, der Unruhe oder Verschmitztheit; die aber auch die Sprachlosigkeit zwischen den Protagonisten spürbar macht, den Hang zur Verdrängung, die Angst vor dem Unberechenbaren. Ein spannend zu lesender Roman nicht zuletzt über den Bruch zwischen jenen, die immer wieder Fragen stellen, und jenen, die Fragen immer wieder ausweichen, ein Bruch, der mitten durch Familien geht. "Das hatte er noch nie verstanden", sagt Onkel Grischa, der Unbotmäßige, "warum die Menschen Angst vor Fragen hatten."

Service

Lena Gorelik, "Die Listensammlerin", Rowohlt