Wie Digitalisierung Kunst und Kultur verändert
Eine neue Version ist verfügbar
Nicht alles fließt, aber beinahe. Die Kultur verflüssigt sich dank der Digitalisierung, ist zumindest Dirk von Gehlen überzeugt. Er schreibt aber nicht über die Urheberrechtsproblematik und darüber wie die Digitalisierung die Kulturbranche negativ verändere, sondern er startet selbst ein Projekt dazu.
8. April 2017, 21:58
"Eine neue Version ist verfügbar." Diese Meldung erscheint am Bildschirm zum Beispiel wenn Viren- oder Musikprogramme am Computer oder das Betriebssystem auf dem Smartphone ein Update brauchen. "Eine neue Version ist verfügbar" - so vielversprechend wie der Titel klingt, so beginnt auch das Buch von Dirk von Gehlen. Der deutsche Journalist und Autor schildert die Idee zu seinem Projekt des sozialen Schreibens: Von Gehlen sieht Kultur weniger als Produkt, nicht als robustes Werkstück, sondern als Prozess - die Entstehungsversion spielt für ihn die wichtige Rolle. Für sein Buchprojekt bedeutet das: Von Gehlen hat für seine 350 Leser und Leserinnen ein Forum, einen Salon im Internet eingerichtet, in dem die Leser informiert wurden, immer wenn ein neues Kapitel abgeschlossen oder ein Schreibfortschritt dokumentiert war. Es sei ein Gemeinschaftsgefühl beim Schreiben und Zuschauen entstanden, erzählt von Gehlen:
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In dieser Form zu schreiben verändert die Rolle des Autors. Man fühlt sich unfrisiert und ungeschminkt. Es werden Ergebnisse Salon-öffentlich, die nicht druckbar sind. Genau darin liegt aber eben der Unterschied zum analogen Schreiben: Es wird versioniert, bevor Inhalte in klassischer Form veröffentlich würden. Dadurch entsteht ein Einblick in die Entstehungsbedingungen, die den Wert des Endprodukts erhöhen.
Die Digitalisierung führe zu dieser Art Klimawandel, die Kultur müsse auf die neuen klimatischen Bedingungen reagieren, meint von Gehlen. Digitale Inhalte verändern, verformen und verflüssigen sich. Kulturpessimisten beruhigt Dirk von Gehlen gleich zu Beginn des Buches.
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Nein, das Buch stirbt nicht. Das war von Beginn an klar, mit jedem Tag des Schreibens wurde es nur noch deutlicher. Der Prozess ist ohne das Produkt nicht denkbar. Das Produkt gewinnt, wenn das Ergebnis um das Erlebnis erweitert wird. Das Erlebnis erzeugt Bindung bei den Fans, das Ergebnis bleibt aber Dokument des gemeinsamen Erlebens, das wiederum in der Lektüre ein neues Erleben eröffnet.
Literatur im Fluss
Für sein Buch hat Dirk von Gehlen zum Beispiel auch mit den Autoren der sogenannten "Declaration of Liquid Culture" gesprochen, die beschreiben, wie sich Kultur, Literatur und Gesellschaft in einem Prozess der Verflüssigung befinden.
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Literatur, die entsteht, ist nicht mehr als Werk festgesetzt, sondern immer im Fluss. Wie ein Blog beispielsweise. Blogs sind, wenn sie gut sind, sehr stark beeinflusst von Dingen, die von außen hereinkommen, das sind Dinge, die man erlebt, die sind sehr interaktiv mit dem, was passiert. Irgendwann ist es vorbei, dann hört man seinen Blog auf, der ist dann abgeschlossen. Das habe ich selber erlebt, der hat eine Reife, und dann gibt man ihn wieder auf.
Ein gerne zitiertes Beispiel für den Wert von beweglichem Wissen im Internet ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Auch der amerikanische Internetphilosoph David Weinberger sieht digitale Medien als Medien des Austauschs.
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Wikipedia zeigt uns, dass Gespräche das Fachwissen verbessern, da sie Schwächen aufdecken, neue Standpunkte einbringen und Ideen eine zugängliche Form verleihen. Diese Vorteile führen dazu, das Wikis - Online-Seiten, die jeder bearbeiten darf - in der Wirtschaft immer stärker genutzt werden.
Die Daten zählen, nicht die Träger
Die Idee, Kultur als Software, als etwas Bewegliches zu sehen, von dem es mehrere Versionen gibt, setze die Einsicht voraus, dass es die Daten sind, auf die es ankommt und nicht auf die Träger, meint von Gehlen. Welche Vorteile es haben kann, einen Entstehungsprozess öffentlich zu machen, versucht von Gehlen am Beispiel des Gesetzestextes zu zeigen. Dabei beruft er sich auf den Internet-Theoretiker Clay Shirky. Shirky argumentiert, warum Gesetze nicht als Ergebnis sondern als Prozess zu verstehen sind.
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Durch die Offenlegung ihrer Entstehungsgeschichte würde deutlich, wer wann welche Gesetze initiiert und geschrieben hat. Bisher konnte man nirgendwo nachsehen, wer ein Gesetz aufgesetzt und wer es gefördert hat, wie bestimmte Passagen in ein Gesetz aufgenommen wurden. Wenn man das alles sichtbar macht, würde das den Bürgern zeigen, wer diese Gesetze in ihrem Namen geschrieben hat. Und die Bürger können sich entscheiden, ob sie sich einmischen oder nicht.
Schreiben live online
Von Gehlen schildert auch eine Beispiel dafür, wie bewegliche Entstehungsprozesse ablaufen können: Die Autorin Silvia Hartmann beispielsweise hat sich beim Schreiben ihres Romans "The Dragon Lords" von einer ausgewählten Leserschaft im Netz über die Schulter schauen lassen. Sie hat ihr Buch sozusagen live online geschrieben, ihr Dokument war nämlich (als Google-Doc) im Internet für eine kleine Gruppe von Leuten abrufbar. Die Leser konnten dort das Dokument mit Kommentaren und Anregungen ergänzen, erzählt Silvia Hartmann über ihr "Naked Writer"-Projekt:
Zitat Silvia Hartmann
Die Metapher der Nacktheit beschreibt vor allem das Fehlen einer Sicherung durch einen Lektor. Nackt zu schreiben heißt vor allem, dass man den kreativen Prozess eines Autors nicht mehr vor dem Leser verstecken kann. Wenn man dem Leser live jedes Wort zeigt, das man schreibt, gibt es keine Sicherheit, keine Verstecke, keinen Ort zum Unterstellen.
Von Gehlen unterstreicht seine These der flüssigen Kultur mit Zitaten von Kultur- und Medienwissenschaftlern und Interviews mit Autoren, Projekt-Initiatoren und Journalisten. Von Gehlen wirft viele interessante und zu klärende Fragen auf, verabsäumt es aber, die Leser am Naheliegendsten teilhaben zu lassen, nämlich am eigenen Entstehungsprozess seines Buches. Fragen wie: Welches Feedback hat er von seinen 350 Lesern bekommen? Hat er es umgesetzt? Wie hat es sein Werk beeinflusst? Und was hat er daraus gelernt? bleiben unbeantwortet. Eine neue Version der digitalen Kulturproduktion ist vielleicht bereits als Idee verfügbar, für Publikum und Leser aber noch nicht wirklich abrufbar.
Service
Dirk von Gehlen, "Eine neue Version ist verfügbar. Wie Digitalisierung Kunst und Kultur verändert. Update", Metrolit Verlag