Der Allesforscher

Heinrich Steinfest, geboren 1961 in Australien, aufgewachsen in Wien, ausgewandert nach Stuttgart, gilt als einer der renommiertesten, zeitgenössischen Krimiautoren, der die Grenzen des Genres ständig überschreitet. Wie schon in seinem vorletzten Roman, "Das himmlische Kind", wendet er sich auch in seinem Buch "Der Allesforscher" immer stärker vom Kriminalroman ab, ohne dass seine Plots deshalb an Spannung einbüßen.

Fragiles Etwas Liebe

"Ja man kann sagen, dass auch mein Interesse dem Alles gilt", sagt Heinrich Steinfest, "weil ich schon immer so einen Hang hatte zu Details, zu Miniaturen. Auch meine Konzentration auf Nebenfiguren, die für mich mitunter genauso wichtig wie die Hauptfiguren werden, wie eben für den Allesforscher ist es so, dass es für mich nichts Unwichtiges gibt, die kleinen Ereignisse sind so wichtig wie die großen Ereignisse - in dem Roman auch, da gibt es ja einige große Katastrophen und dann die ganz kleinen Momente, die ich mit derselben Hinwendung beschreibe."

"Der Allesforscher" ist ein Wort, das Steinfest vor Jahren von seinem damals noch kleinen Sohn geschenkt wurde, der verstehen wollte, was ein "Universalgelehrter" ist. Ein Wort, wie geschaffen für den "Detailromantiker" Steinfest, wie er sich selbst nennt. Ein Wort, aus dem irgendwann ein Titel und schließlich ein Roman werden musste. Zur Romantik und zum Universum gehört immer auch die Liebe und die ist ein fragiles Etwas, das aus den Zwängen des alltäglichen Lebens herausfällt.

"Und genau darin besteht ja der Sinn der Liebe, keine Erklärungen abgeben zu müssen", meint Steinfest, "denn die Liebe ist in der Tat genau das Gegenteil. Im wirklichen Leben muss man sich ständig rechtfertigen, darum wird auch so viel gelogen. Von Kindheit an erscheint das Lügen als Prinzip des wirklichen Lebens, die Liebe hingegen gipfelt darin, nicht lügen zu müssen, nicht darum, weil man so ehrlich ist, sondern weil einer den anderen nicht zwingt, die Wahrheit auszusprechen. Dort wo es anders ist, ist es keine Liebe, sondern irgendein wackeliger Deal."

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Sixten Braun, ein deutscher Geschäftsreisender in Taiwan und über weite Strecken der Ich-Erzähler des Romans, verlangt keine Erklärung, als sich Lana Senft beim Sex nicht ausziehen will. Er fragt auch nicht, warum er sie zwar lieben und beim Vornamen "Lana" nennen, aber trotzdem nicht duzen darf. Er liebt diese Frau, die ein Geheimnis hat. Wie bitter dieses Geheimnis ist, wird er erst später erfahren.

Lana Senft ist jene Ärztin, die Sixten nach einem Unfall nicht nur das Leben gerettet hat, sondern die ihn auch über den neuesten Stand der Gehirnforschung aufklärt. Das Gehirn lügt ständig und gaukelt uns eine Vorstellung der Wirklichkeit vor, mit der es sich leben lässt. Das Gehirn von Sixten Braun wurde schwer getroffen: in der Stadt Tainan im Staat Taiwan von einem Stück eines toten, durch seine Gärgase explodierenden Pottwals.

Was für ein bizarrer Einfall, könnte man denken. Aber in seinem Nachwort stellt der Autor klar, dass im Jänner 2004 tatsächlich ein Wal in ebendieser Stadt in ebendiesem Land explodiert ist. Sixten Braun gibt es aber nur in Steinfests Roman und er ist zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Doch es kommt noch schlimmer.

Der tiefe Fall als Glücksfall

Es folgt ein Flugzeugabsturz, den dieser Geschäftsreisende nur überlebt, weil er seinen Sitznachbarn der Schwimmweste beraubt. Allerdings unbewusst. Und er bringt diesen Sitznachbarn auch nicht um, wie in manchen Rezensionen zu lesen ist, sondern er trifft den guten Schwimmer in einer Boje wieder, wohin sich beide gerettet haben. Dort stirbt der Feind dann ganz von selbst, als er an Sixten Rache nehmen will. Aber für seine Firma ist auch der überlebende Sixten gestorben, denn wer so viel Unglück auf sich zieht, ist selber daran schuld.

So irrational agieren die internationalen Konzerne. Doch für Sixten Braun ist das ein Glück, das er noch gar nicht absehen kann, denn sein Leben nimmt eine drastische Wendung. Von einem hochbezahlten Manager, der sich bewusst nicht um die Folgen seines Handelns kümmert, mutiert er zu einem Bademeister im Mineralbad Berg in Stuttgart, wo er davor gefeit ist, als Hampelmann eines Konzerns Schuld auf sich zu laden. Eines Tages rettet er sogar einen Erpel, der im Schwimmbad einen Schlaganfall erlitten hat. Eine von vielen ironischen Pointen in Steinfests Roman. Die betagten Badegäste sind zu sportlich, um von ihm gerettet werden zu müssen. Jedenfalls setzt der Autor seine dramatischen Effekte nicht um ihrer selbst willen.

Aus der Bahn in eine neue Bahn

"Mir geht es wirklich nur darum, dass die Figur gezwungen ist, sich zu verwandeln, darum auch dieser dramatische Anfang", sagt Steinfest. "Das dient ja nicht einer reinen Action-Beschreibung, sondern es muss so dramatisch sein, um ihn aus der Bahn zu werfen und in eine neue Bahn zu befördern, die ihn dann nicht nur zu einem vollkommen anderen Beruf, zu einem anderen Liebesverhältnis führt, sondern auch zu dem, dass er Vater wird und auf diese Weise auch eine Art von Mensch- und Vaterwerdung stattfindet."

Die Vaterwerdung beginnt mit einer berührenden Berührung: Sixten Braun, der Bademeister, der nie Vater werden wollte, nimmt ein Kind an, das nicht von ihm stammt, denn man sieht, dass es einen asiatischen Vater gehabt hat. Dieses Kind wird ihm von einer Angestellten der taiwanesischen Botschaft aufgedrängt. Es ist das Kind von Lana Senft, seiner unsterblichen, verstorbenen Liebe.

Lana Senft, die Ärztin, die Sixten Braun das Leben gerettet hat, die aus pragmatischen Gründen nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, die Hirnforscherin, die kurz nach der Geburt des Kindes an einem Hirntumor gestorben ist, taucht nach Jahren durch dieses Kind wieder in seinem Leben auf. Ein besonderes Kind, das zwar fühlt und spricht, aber in einer Sprache, die niemand versteht. Es leidet am Asperger-Syndrom, einer autistischen Erkrankung, deren einschlägige Interpretation heutzutage etwa so in Mode gekommen ist, wie im 19. Jahrhundert die der Hysterie. Aber leidet das Kind wirklich?

Simon, der Allesforscher

In Steinfests Roman ist dieser Simon eine Persönlichkeit, die ganz bei sich und ganz gegen die Diagnose empathiefähig ist. Simon klettert wie eine Gämse, zeichnet wie Leonardo da Vinci, liest Donald-Duck-Hefte, wie andere Kinder, stellt sich taub, wenn er nicht hören will, ertrotzt, was er wünscht, und ist doch ganz präsent, wenn die Erwachsenen seine Zuwendung brauchen.

Simon ist die eigentliche Hauptfigur, der Allesforscher in diesem Buch, einem Buch, in dem der Autor seinen Einfällen und Figuren folgt und sich nicht davor scheut, eine unwahrscheinliche Handlung zu konstruieren, der man trotzdem gebannt folgt. Tote geistern durch die Träume der Menschen und nehmen Einfluss auf ihr Leben. Zum Beispiel Sixtens Schwester Astri, die von jenem Berg in Tirol abgestürzt ist, auf dem auch Steinfests realer Bruder Michael vor fast drei Jahrzehnten tödlich verunglückte. Trotzdem darf Simon, das Kind, klettern.

"Ich bin bei diesem Roman so weit gegangen - das ist nun tatsächlich sehr autobiografisch -, dass ich meine eigene Höhenangst beschreibe und tatsächlich für diesen Roman auch mit dem Hallenklettern angefangen habe, um tatsächlich diese Tätigkeit nachvollziehen zu können, und es besser beschreiben zu können", sagt Steinfest, "wobei ich gelernt habe, dass man Angst nicht überwinden kann, sondern man kann sich mit der Angst Hand in Hand bewegen, aber sie hört nicht auf, sowie auch meine anderen Ängste nie aufhören: die Angst vorm Lesen, die Angst vorm Sprechen, die ist bei mir einfach stark ausgeprägt, aber man kann damit umgehen, und es macht mir immer noch Spaß zu klettern und nichtsdestotrotz verspüre ich die Angst. Das ist ambivalent, so ist es auch mit dem Buch im Endeffekt, ich fürcht mich vor jedem Buch und ich freu mich auf jedes Buch." Literarische Trauma-Bewältigung auf höchstem Niveau.

"Eine warme Hand auf der Schulter"

Am Ort des Unglücks führt der Autor alle Fäden seines Romans zusammen. Auch der leibliche Vater von Simon ist hier. Der ehemalige Chef einer exquisiten Kosmetikfirma, der eine fruchtbarkeitssteigernde Hautcreme für Frauen erfunden hat, deren Formel er nicht verraten wollte, ist auf der Flucht vor einem Killerkommando in den Tiroler Bergen untergetaucht. Hier verdingt er sich als Koch in einer matriarchalisch geführten Almhütte. Hier freundet er sich mit seinem ehemaligen Rivalen in Liebessachen, Sixten, an und besonders mit Simon, den er für dessen Sohn hält. Denn die wahren Verwandtschaftsverhältnisse erkennt nur der Leser und freut sich.

"Für mich sind Bücher, die gelungenen, so etwas wie eine warme Hand auf der Schulter", meint Heinrich Steinfest. "Es kommt von hinten, man spürt es plötzlich und legt sich so sachte auf die Schulter und ich hoff halt, dass auch meine Bücher warme Umschläge sind."

Service

Heinrich Steinfest, "Der Allesforscher", Piper Verlag