Mit Syrern auf der Flucht nach Europa

Über das Meer

Wie fühlt es sich an, auf so einem Boot zu sitzen, überfüllt und mit der Ungewissheit, lebend in Ewuropa anzukommen? Was sind das für Menschen, die ihr Leben riskieren für den Versuch, sich in Europa eine Zukunft aufzubauen? Der Journalist Wolfgang Bauer, Reporter bei der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit", hat sein Leben riskiert, um diese Fragen zu beantworten.

Gemeinsam mit dem Fotografen Stanislav Krupar hat er ein halbes Jahr vor der Lampedusa-Katastrophe versucht, syrische Flüchtlinge auf ihrem Weg von Ägypten nach Europa zu begleiten.

Menschenleben hat keine Priorität

Tote haben eine kurze Halbwertszeit. Anfang Oktober 2013 sind vor der italienischen Insel Lampedusa mehrere hundert Flüchtlinge ertrunken, als ihr Boot zu brennen begann und kenterte. Europa war geschockt. Die italienische Küstenwache rief die Operation "Mare Nostrum" ins Leben, unter deren Flagge mehr als 100.000 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gefischt wurden. Ende Oktober 2014 hat Italien die Aktion "Mare Nostrum" mit der Begründung auslaufen lassen, dass sich kein europäisches Land bereit erklärt hätte, die Italiener zu unterstützen.

Seit November läuft nun im Mittelmeer die Operation "Triton" der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Die hat aber nach Aussage ihres Chefs nicht die Priorität, Menschenleben zu retten. Wolfgang Bauer ist überzeugt, dass diese Entscheidung Tausenden Menschen das Leben kosten wird.

Getarnt als bärtige Englischlehrer

Bauer spricht von "seiner Gruppe" und meint damit drei Syrer, die er ein paar Wochen zuvor in Ägypten kennen gelernt hat, als er selber noch Teil einer Flüchtlingsgruppe war. Der deutsche Journalist Wolfgang Bauer und der tschechische Fotograf Stanislav Krupar wollten sich von Schleppern über das Mittelmeer in die EU bringen lassen.

Um von den Schleppern und ihren Fluchtgenossen nicht als Journalisten erkannt zu werden, lassen sich Bauer und Krupar Bart und Haare wachsen und geben sich als Englischlehrer aus dem Kaukasus aus, die wegen einer Familienfehde nach Europa fliehen müssen.

In Kairo treffen sie Amar Obaid, Syrer aus Homs, verheiratet, Vater dreier Töchter. Amar, der in Wirklichkeit anders heißt, entstammt einer wohlhabenden syrischen Kaufmannsfamilie und hatte sich nach seiner Flucht aus Homs in Kairo ein Geschäft mit importierten indischen und balinesischen Möbeln aufgebaut. Als nach dem Militärputsch die syrischen Flüchtlinge als Sündenböcke herhalten müssen und als Terroristen und Schmarotzer verleumdet werden, beschließt Amar, ein zweites Mal zu fliehen - diesmal alleine, nach Europa, über das Meer. Der Unternehmer Amar Obaid ist keine Ausnahme, erzählt Wolfgang Bauer, die meisten syrischen Flüchtlinge stammen aus der Mittel- und Oberschicht.

Entführung - Küstenwache - Gefängnis

Zu den ergreifendsten Bildern Stanislav Krupars in Wolfgang Bauers Buch "Über das Meer" gehört das Familienfoto der Familie Obaid vor der Flucht. Man sieht eine gutbürgerliche Familie, die genau so auch in Paris, Rom oder Wien zuhause sein könnte. Nur die etwas überladene Tapete deutet auf einen orientalischen Hintergrund hin.

Doch die Familie Obaid hat das Pech, aus Syren zu stammen, und da es auch für Syrer kaum eine legale Möglichkeit gibt, nach Europa einzureisen oder von außerhalb Europas Asyl oder den Flüchtlingsstatus zu beantragen, muss Amar Obaid Schlepperdienste in Anspruch nehmen.

Die Flucht von Wolfgang Bauer, Stanislav Krupar und Amar Obaid verläuft chaotisch. Bevor sie auch nur einen Fuß auf ein Boot gesetzt haben, wird die Flüchtlingsgruppe in Alexandria entführt, als Geiseln genommen, zu zwanzigst tagelang in enge Wohnungen gepfercht und von konkurrierenden Schleppern abgeworben.

"Schlepper" Wolfgang Bauer

Über eine Woche dauert das, und nach nicht einmal einer Nacht auf dem Wasser landet die ganze Gruppe in den Fängen der ägyptischen Küstenwache und im Gefängnis. Was sich in dieser Kürze fast wie das Skript eines Slapstick-Films anhört, ist in der Realität ein Spiel auf Leben und Tod. Auf dieses Spiel, sagt Bauer, lässt man sich nicht ohne Grund ein.

Zweimal sitzt Wolfgang Bauer während seiner Recherchefahrten im Gefängnis. Einmal als Flüchtling in Alexandria und ein zweites Mal als vermeintlicher Schlepper in Innsbruck: Als Wolfgang Bauer versucht, drei der inzwischen in Italien gelandeten syrischen Fluchtgenossen mit einem gemieteten BMW nach Deutschland zu bringen, werden sie an einer Mautstation in Innsbruck von der Polizei gestoppt.

Wolfgang Bauer sitzt als vermeintlicher Schlepper einen halben Tag in Untersuchungshaft, bevor er frei kommt. Die Flüchtlinge werden von der österreichischen Polizei nach Italien abgeschoben, Wolfgang Bauer darf, als EU-Bürger, mit seinem Mietwagen nach Deutschland weiterreisen. So wie er ein paar Wochen zuvor, abgeschoben aus dem ägyptischen Gefängnis, per Flugzeug zurück ins gelobte Europa gereist ist.

"Über das Meer" ist kein dickes Buch, aber 130 Seiten genügen, um nicht nur die Geschichte einer Flucht zu erzählen, sondern auch, welchen Preis der europäische Traum von einem Leben in Würde, Wohlstand und Frieden hat - für die Menschen außerhalb Europas, aber auch für Europa selbst. 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs umgibt ein vielhundert Mal tödlicherer Eiserner Vorhang den geeinten Kontinent.

Service

Wolfgang Bauer, "Über das Meer - Mit Syrern auf der Flucht nach Europa", Suhrkamp Verlag