Zum 150. Geburtstag von Carl Nielsen

Mehr als Musik

Herbert Blomstedt kündigte 1998 für seine Zeit als Chefdirigent mit dem Gewandhausorchester Leipzig alle sechs Symphonien von Carl Nielsen an. Werde er das nordische Repertoire pflegen? Blomstedt: "Nein, wir spielen einen Großen der europäischen Tradition."

Nielsens Leistung war, "zu den Wurzeln zurückzukehren, formal zum Barock, harmonisch zur Renaissance. Nielsen versteht, dass eine Terz etwas ganz anderes als eine Quart aussagt; die Quinte ist eine Offenbarung, die Quart größtes Glück, die Terz eine unfassbare Erfahrung. Er übersprang die Romantik, die in eine Sackgasse geführt hatte, wollte nicht wie Wagner, noch weniger wie Richard Strauss sein: schöner Kern, sonst Schaum und Schminke".

Gegen "modische Tagesmeinungen"

Nielsen begründete seine Abkehr von der Romantik mit dem Wesen der Musik: "Wenn man die Elementarkräfte betrachtet, findet man in allen dieselben unumstößlichen Gesetze der Ordnung, der Entwicklung und des Zusammenhangs. (…) Musik ist eine Kunst, die entweder im Tiefschlaf liegt oder kräftiger als alles andere existiert. Sie ist entweder lebendig oder tot. Die anderen Künste 'beschreiben' das Leben. Musik 'ist' Leben und ebenso unauslöschlich."

Was kritisierte Nielsen an "modernen" Kollegen? "Sie beginnen mit Stimmungen, Gefühlen, Farben, Sinneseindrücken, statt Stimmführung, Kontrapunkt etc. zu studieren." Das "Moderne", sagte er, "ist ein lächerlicher Begriff." Seine Musik breche "mit keiner Tradition, sondern entwickelt gewisse Prinzipien weiter". Sie sei aber "radikal" in dem Sinne, dass er sich gegen "modische Tagesmeinungen" wende.

Prängend war der Verein für Musik

Nielsen wurde vor 150 Jahren am 9. Juni auf Fünen in eine verarmte Kleinbauernfamilie geboren. Prägend war weniger die Volksmusik der Insel, sondern ein Verein für Musik, der mit einem Kleinstorchester die "höhere Musik des klassischen Repertoires" spielte und Musik als unverzichtbar für die Persönlichkeitsbildung begriff – für Nielsen ein "Erweckungserlebnis", erzählt John Fellow, der dänische Nielsen-Kenner und Herausgeber einer 7.000 Seiten umfassenden Nielsen-Briefausgabe. Musik war mehr als Gefühlserregung, noch nicht wie in Mitteleuropa bürgerlich dominiert, noch nicht elitär-esoterisch und noch kein Produkt der Zerstreuungsindustrie.

Der fünf Jahre ältere Mahler erneuerte die Symphonie, indem er Musik sozialer Klassen, die von der großbürgerlichen Musikkultur ausgeschlossen waren, ins Werk und in den Konzertsaal holte. Je bedrohlicher das Zeitgeschehen wurde und je deutlicher Nielsens-Symphonien die Konflikte reflektierten, umso wichtiger wurden für ihn "Volksgesänge" und Schullieder.

Noch radikaler ist der Unterschied zum neun Jahre jüngeren Arnold Schönberg: Beide waren profunde Kenner der Tradition bis in ihre Gegenwart und meisterhafte Kontrapunktiker. "Während sich Schönberg im 'Verein für musikalische Privataufführungen' isolierte, im Glauben, die 'Vormachtstellung der deutschen Musik' für die nächsten 100 Jahre gesichert zu haben", nutzte Nielsen eine völlig andere historische Entwicklung und schrieb vor dem Ersten Weltkrieg "Gesänge", um "Menschen zur Kunstmusik zu bringen. Die Dänen meinen, er habe in mehr als 300 Liedern Volksmusik verwendet. Er war der Schöpfer dieses Volksidioms. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese dänische Tradition durch die Übermacht der nordamerikanischen Unterhaltungsindustrie zerstört."

"Für das kleine Dänemark zu groß"

Nielsen war, so Fellow, "für das kleine Dänemark zu groß und zu unbequem. Einerseits galt er als Radikaler – der heimischen Romantik versetzte er den Todesstoß –, andererseits als Konservativer, der Dänemarks Weg ins 20. Jahrhundert verhinderte. Anerkennung zu Hause bewirkte lange Zeit, dass er im Ausland als 'Nationalkomponist' galt." Nielsen zweifelte, ob in einer Zeit, in der alle Bereiche sich dem Kommerz beugten, "höhere" Musik noch möglich war, und "erkannte bereits, was uns heute beschäftigt: Kunst ist zur Dekoration verkommen; Musik hat die Verbindung zur Tradition gekappt, sich in zahllose Richtungen und Theorien aufgesplittert, die nur die Abhängigkeit von finanzieller Unterstützung, Medienpräsenz und Marketing verbindet." Nur für "höhere Musik für alle" würde sich keine Nische finden.

Mitte der 1920er Jahre war Nielsens Optimismus nicht geschwunden, aber die Konflikte waren deutlicher als zur Zeit der Symphonien vier (1916) und fünf (1922) und nicht mehr zu ignorieren. Nielsens sechste Symphonie –"Sinfonia semplice" – ist ein Versuch, wieder einfach zu sein, ohne sich an einem schönheitstrunkenen Antimodernismus zu berauschen.

Nielsens letzte Symphonie ist modern, weil sie das Einfache versucht und mit musikalisch komplexen Mitteln eine musikalische Chronik des Scheiterns darstellt. Nach der letzten der neun kunstvollen Variationen des Finalsatzes versucht die Coda der drohenden persönlichen und allgemeinen Auslöschung mit heroischem Glanz und einem trotzig-spöttischen Fagottschlenker zu begegnen. Nielsen, resümiert Fellow, reihe sich unter die großen europäischen Humanisten, "die zugleich aufbauen und niederreisen", was ihn als Nationalkomponisten untauglich mache und quer zu unserer Zeit stehen lasse, die "uns unentwegt auffordert, positiv zu denken."