Digitale Literaturanalyse

Was verleiht Kafkas Texten ihren doppelten Boden? Wie sind die Märchen der Welt miteinander verwandt? Und gibt es so etwas wie den stilistischen Fingerabdruck eines Autors? Es sind computergestützte Verfahren der sogenannten digitalen Literaturanalyse, die dabei helfen sollen, solche Fragen zu beantworten.

Kulturjournal, 3.6.2016

Der heuer begangene 400. Todestag von William Shakespeare hat wieder einmal die Frage aufgeworfen, ob es einen Mann dieses Namens überhaupt gegeben hat, oder ob nicht Francis Bacon oder der Earl von Oxford sich dieses Pseudonyms bedient haben, um ihre Stücke unters Volk zu bringen. Da Shakespeares Werke digitalisiert sind, kann man sie nun dem Computer zu lesen geben und ihn nach bestimmten Mustern suchen lassen.

Stilistischen Fingerabdruck ermitteln

"Anders als wir denken, benutzen wir die Worte nicht ganz frei, sondern haben so eine Art Profil. Es sind besonders kleine Worte - Artikel, Pronomen -, die wir in einer charakteristischen Weise verwenden", erzählt Gerhard Lauer, Experte für digitale Literaturanalyse an der Universität Göttingen. Das computerunterstützte Aufspüren solcher Charakteristika eines Autors kommt nun auch in der Literaturwissenschaft immer häufiger zum Zug. Andernorts standen solche Verfahren und die sie beherrschenden Textdetektive nämlich schon seit langem hoch im Kurs.

Abzulesen sind hier charakterliche Besonderheiten der Autoren, aber auch bestimmte Vorlieben, bewusst oder unbewusst, die dann auch die besondere Wirkung ihrer Texte erklären. Gerhard Lauer hat da etwa Franz Kafkas erste Veröffentlichung genauer unter die Lupe genommen. Das Buch heißt "Betrachtung", stammt aus dem Jahr 1912 und enthält achtzehn meist kurze Prosatexte.

"Distant Reading" für viele Texte

Daneben wird derzeit in der computergestützten Literaturanalyse auch viel Energie investiert, um große Veränderungen und Umbrüche innerhalb der Literaturgeschichte aufzuzeigen. Wann sind bestimmte Romangenres wie etwa Krimis, Geistergeschichten oder historische Dramen erstmals aufgetaucht, wann haben sie ihre Blütezeit und wann ihren Niedergang erlebt. Dafür müssen ungeheure Datenmengen verarbeitet werden.

Als Methode kommt hier das so genannte "Distant Reading" ins Spiel, was sich als Lesen aus der Entfernung übersetzen lässt. Ablesen lässt sich anhand solcher Daten auch, wie sich verschiedene Literaturen beeinflusst haben, wo es eine Nähe gibt und wo starke Brüche bestehen.

Darstellungsformen & Zukunftspotential

Um diese Zusammenhänge anschaulich zu machen, haben sich auch neue Darstellungsformen herausgebildet. Vor allem Modelle, die aus der Genetik stammen, haben sich hier durchgesetzt, denn ähnlich wie biologisches Erbgut werden auch literarische Themen, Ideen und Stile von Generation zu Generation weitergereicht.

Federführend in der Forschung ist etwa der Italiener Franco Moretti, der in Stanford zusammen mit seinem Kollegen Matthew Jockers das Literary Lab aufgebaut hat. Drüben in Übersee gibt es auch schon ein heftiges Gerangel um die Experten in diesem neuen Feld, so Gerhard Lauer. "Universitäten, die vielleicht nicht so profiliert sind, investieren in dieses Thema, weil sie glauben, das hat Zukunft. Heute werden in Nebraska die wichtigsten amerikanischen Kulturellen-Erbe-Editionen gemacht."

Der deutschsprachige Raum hinkt da noch weit hinterher und leidet unter seinen verkrusteten Strukturen. Kein Konkurrenzdenken, sondern ein Miteinander ist hier gefragt, denn die digital gewonnenen Ergebnisse müssen analog ausgewertet und eingeschätzt werden. Der Elfenbeinturm als liebster Aufenthaltsort der Geisteswissenschaftler scheint jedenfalls ausgedient zu haben.

Service

Stanford Literary Lab
University of Nebraska - Matthew Jockers

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