Türkei: Jagd auf Gülen-Anhänger

Kritische Anmerkungen aus Europa und den USA wehrt die Regierung in Ankara ab mit der Begründung, dass das religiöse Netzwerk des in den USA lebenden Predigers Gülen ein Militärregime errichten wollte. Der türkische Geheimdienst hatte das Gülen-Netzwerk bereits in den vergangenen drei Jahren im Visier, ohne allerdings, dass ein bevorstehender Umsturzplan erkannt worden ist.

Fethullah Gulen

BULENT KILIC / AFP / picturedesk.com

Morgenjournal, 4.8.2016

Aus Istanbul,

In der Türkei sind mittlerweile mehr als 60.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen worden. Etwa 10.000 Personen sind in Haft. Das Vorgehen gegen angebliche Putschisten und Anhänger des religiösen Gülen-Netzwerks belastet das Verhältnis zwischen der Türkei und dem Westen immer mehr.

Während EU und USA die Erosion des türkischen Rechtsstaates anprangern, verteidigt die türkische Regierung ihr Vorgehen als notwendige Gegenwehr gegen Verschwörer, die Präsident und Regierung stürzen und ein Militärregime im Land installieren wollten. Der türkische Geheimdienst hatte das Gülen-Netzwerk zwar in den vergangenen drei Jahren verstärkt im Visier, Hinweise auf einen bevorstehenden Coup hatte man aber versäumt.

Was aus türkischen Geheimdienstkreisen dieser Tage an die Medien sickert. Das steht einem Hollywood-Thriller um nichts nach. Von komplexen Nachrichten-APPs, über die Gülen-Anhänger ihre Anordnungen bekommen haben sollen ist da die Rede. Von geheimen Chatrooms, in denen der türkische Geheimdienst mittlerweile hunderttausende Nachrichten entschlüsselt hat. Von einer Spezialeinheit, die Wörter und Gesten des in den USA lebenden Predigers Fetullah Gülen nach verstecken Nachrichten an seine Anhänger analysiert hat.

Trotzdem: MIT, der türkische Geheimdienst, hat angeblich keine Hinweise auf einen bevorstehenden Coup aus alldem ableiten können. Wohl aber wurden Listen mit zehntausendenden Namen erstellt, darunter 600 hochrangige Militärs, die man als Akteure des Gülen-Netzwerks identifiziert hatte. Dass diese Gruppe nur wenige Wochen später aus dem Militär entfernt werden hätte sollen könnte den Putsch ausgelöst haben. Fakten, Indizien, Verschwörungstheorien. Sie verschwimmen in der aufgeheizten öffentlichen Debatte.

Fest steht: in der Nacht des 15. Juli hat ein brutaler Putschversuch stattgefunden. Soldaten haben auf Zivilisten geschossen. In Ankara haben Putschisten aus der Luft das Geheimdienstgebäude angegriffen sowie das Parlament und die Umgebung des Präsidentenpalasts bombardiert. In Marmaris dringt ein Spezialkommando ins Urlaubshotel von Präsident Erdogan ein. Der war vorgewarnt und nicht mehr vor Ort. Junge Rekruten dachten, alles sei nur eine Übung. Hunderte von ihnen wurden mittlerweile freigelassen.

Der Rest beruht derzeit auf Indizien und Vernehmungsprotokollen. Festgenommen mutmaßliche Putschisten geben darin an: sie hätten klare Anweisungen direkt von führenden Mitgliedern ihre Sekte erhalten. Mustafa Hos, Gazeport: Der derzeit wichtigste Beleg für die Verstrickung der Gülen-Sekte in den Putsch sind die eigenartigen Befehlshierarchien, die in vielen Zeugenaussagen zur Putschnacht bestätigt wurden. Einfache Unteroffiziere geben hochrangigen Offizieren Befehle. Das gibt es nur in der Welt der Sekten und ist beim Militär sonst weder üblich noch möglich. Das Kommando hatten die verdienten Brüder der Sekte, die eigentliche Militärhierarchie war zweitrangig. Das ist ein klarer Beweis wer das gesteuert hat.“

Der Journalist Mustafa Hos warnt seit Jahren vor den Gefahren der Gülen-Bewegung. Und er ist auch eines ihr Opfer. Als Nachrichtenchef eines der größten TV-Networks der Türkei wird er abgesetzt. Weil er Berichte über Machenschaften der Gülen-Leute im Justizapparat nicht abdreht, sondern zulässt. Bis heute erhält er Drohungen. Hos: „Warum übernimmt eine Sekte die Kontrolle beim Nachrichtendienst der Polizei? Warum greift sie nach der Macht beim Militär oder beim Geheimdienst? Überall gab es Alarmzeichen. Wir reden nicht nur von einer religiösen Sekte. Sondern von einer Organisation, die versucht die Kontrolle in allen Institutionen des türkischen Staates zu übernehmen.“

Macht und Einfluss waren stets auch Ziel des Predigers Gülen. Fakt ist: der jetzige Todfeind des Präsidenten war viele lang dessen Partner. Beim gemeinsamen Marsch durch die türkischen Institutionen. Mit dem Ziel: das säkulare Fundament durch ein islamisches zu ersetzen.

Die von Erdogan ausgerufene Verhaftungswelle, die Massensuspendierung, die Jagd auf Gülenisten nach dem Putsch ist damit auch Ausdruck eines Machtkampfs zwischen islamischen Brüdern, sagt der mutige Journalist. Illusionen macht er sich keine. Hos: „Diese Kampagne wirft alle in einen Topf und verkommt zunehmend zu einer Hexenjagd.“ Die Verunsicherung wächst. Damit bei vielen auch das Gefühl, dass man sich derzeit nicht wirklich sicher fühlen kann.