Szenenbild: eine Frau sitzt rittlings auf einem Mann

APA/ROBERT JAEGER

Tonspuren

Die wiederentdeckte Autorin Else Jerusalem und ihr Skandalroman "Der Heilige Skarabäus"

Im Jahr 1909 veröffentlicht der Berliner S. Fischer Verlag den Roman einer jungen Wienerin. Ihren Debutroman. Das Buch trägt einen eigenartigen Titel: “Der Heilige Skarabäus” und wird gleich im Erscheinungsjahr ein Erfolg sondergleichen. Es wird außerdem zu einem Skandal - denn der Roman behandelt, auf ausführlichen 600 Seiten, ein Tabu der bürgerlichen Gesellschaft.

Das Wesen der Prostitution hat schon im Lauf des 19. Jahrhunderts Debatten verursacht. Ärzte und Hygieniker, Juristen und Ökonomen haben das Phänomen - mehr oder weniger wissenschaftlich - untersucht; Geistliche und die Polizei vor sittlicher Bedrohung und gesundheitlicher Gefährdung gewarnt, vor allem der Verbreitung der Syphilis. So gut wie immer sind es Männer, die diskutieren. Else Jerusalem dagegen schreibt als Frau über betroffene Frauen und ihre Lebensläufe. Schauplatz des Romans “Der Heilige Skarabäus” ist das Rothaus, ein fiktives Bordell in der Residenzstadt Wien.

Kein Randphänomen

Nach und nach erfahren wir von den Lebenswegen der Frauen im Rothaus, aus diesem oder jenem Umstand auf die “schiefe Bahn” geraten. Und solche Umstände gibt es viele im ausgehenden Fin de Siècle. Einer Zeit ohne soziale Absicherung, in der Frauen ihren Vätern und Ehemännern, Verwandten, Dienstgebern und deren Söhnen allzu oft ausgeliefert sind. Und im Konfliktfall schnell auf der Straße landen. Prostitution, erfährt man im Roman Der Heilige Skarabäus, ist kein Phänomen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Sondern Bestandteil ebendieser Gesellschaft. Eine Wirtschaftsbranche.

Else Jerusalems Buch ist nicht das erste über Prostitution. Drei Jahre zuvor, 1906, ist die “Geschichte einer Wienerischen Dirne” erschienen, die Geschichte der Josefine Mutzenbacher. Angeblich von ihr selbst erzählt, doch mit großer Sicherheit ausgedacht - möglicherweise von dem Schriftsteller Felix Salten, dem Autor, unter anderem, des Kinderbuchs Bambi. Ein Kind ist auch die fiktive Josefine Mutzenbacher. In harmlosem Ton berichtet sie selbst über Missbrauch und Inzest. Im Mittelpunkt ihrer detaillierten Berichte steht die Lust, die sie dabei - angeblich - empfindet; eine verführte Verführerin. Die Protagonistin des Romans “Der Heilige Skarabäus” erlebt es anders.

Albert Eibl

Eva Reisinger

Der Verleger Albert Eibl vom Verlag "Das vergessene Buch"

"Sie fühlte seinen Atem keuchend und stöhnend an ihrem Ohre vorüberwehen … Wie oft erlebt! In diesem Augenblick floh eine Anzahl grauenhafter Bilder und wüster Erinnerungen an ihr vorüber und erwürgten jedes Liebesempfinden. Hundertmal erlebt! … Da war nichts, was ihr gegolten hätte, ihr, Milada … Der Leib nur, der arme, willenlose, war es, den er begehrte, um den er stöhnte und zitterte … Er und die anderen …Schreckhaft deutlich sah sie vor allen anderen den alten, hageren Herrn vor sich, den ihr die Gold-scheider, als sie fünfzehnjährig war, zugeführt hatte. Eine rosa Rose steckte damals an ihrer Brust. (Der Erste war das.) Und dahinter ein Zug von Männern, von von jun-gen, alten, freundlichen und widerlich rohen. Ein Laut des Ekels drang von ihren Lippen."

1911, zwei Jahre nach Erscheinen des “Heiligen Skarabäus”, verlässt Else Jerusalem ihre Ehe, ihre Kinder, und Österreich. Mit einem neuen Mann. Sie verschwindet aus der Wiener Gesellschaft, aus den Diskussion über ihre Person, aus den Debatten über Anstand und Moral. Ist es eine Flucht? Lange Zeit ist über die Umstände von Else Jerusalems Emigration nichts bekannt. Erst in den Jahren nach 2014 hat die Germanistin Brigitte Spreitzer Else Jerusalems weiteres Leben erforscht.

"Der Heilige Skarabäus” ist die bisher erfolgreichste Veröffentlichung im Verlag "Das vergessene Buch". Zu einer Startauflage von 1200 Exemplaren im Herbst 2016 werden im Frühjahr 2017 800 Exemplare nachgedruckt. Noch weit entfernt von den sechzig- oder achzigtausend Exemplaren zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Doch das Buch hat nichts an Aktualität eingebüßt, weiß der Verlagsgründer Albert Eibl.

Text: Johann Kneihs