Die tunesische Fahne

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Tunesien

Eine Gesellschaft in Bewegung

Tunesien ist eines der kulturell reichsten und gesellschaftspolitisch spannendsten Länder des maghrebinischen Mittelmeerraums. Das kleine Tunesien ist flächenmäßig doppelt so groß wie Österreich und wird von rund zehn Millionen Menschen bewohnt. Historisch wurde es von großen, ganz unterschiedlichen Kulturen geprägt.

Ursprünglich von Berbern besiedelt, landeten im 8. Jh. v. Chr. die Phönizier an den Küsten und brachten durch Handel und Handwerk der Stadt Karthago eine Blütezeit. Nach der Zerstörung der Metropole durch die siegreichen Römer wurden die fruchtbaren Gebiete der Punier in die römische Provinz Africa eingegliedert.

Vandalen, Byzantiner, Araber und Franzosen

Ab dem 2. Jh. n.Chr. prägte das Christentum das Land, wovon heute noch die Ruinen frühchristlicher Kirchen zeugen. Im 5. Jahrhundert siedelten sich die germanischen Vandalen in Karthago an. Von dort stach der Vandalenkönig Geiserich im Jahr 455 mit einer Kriegsflotte in See und zerstörte Rom, das ausgeraubt und gebrandschatzt wurde. Bis ins Jahr 670 herrschten die Byzantiner im Land, bis sie sich in mehreren Schlachten den arabischen Eroberern geschlagen geben mussten.

Anders, als die meisten Besatzer, blieben die Araber nicht nur an der Küste, sondern eroberten auch das Landesinnere und errichteten überall Koranschulen. Kairouan wurde gegründet. Dieses bedeutendste islamische Zentrum seiner Zeit und fungierte als Ausgangspunkt für die Arabisierung des westlichen Maghreb.

Nach anfänglichem Widerstand konvertierte der Großteil der Berber zum Islam. Im Mittelalter wanderten Mauren und Juden aus Andalusien ein. Nach der Schlacht von Kairouan im Jahr 1381 übernahmen die Osmanen die Herrschaft über Tunesien, die 500 Jahre lang andauern sollte. 1881 eroberten die Franzosen das Land und machten es zu einem Protektorat.

Die französische Kolonialherrschaft, die einerseits jeden Widerstand im Keim unterdrückte, modernisierte andererseits mit der Errichtung von Eisenbahnlinien die Infrastruktur und führte ein zweisprachiges Bildungssystem ein. Auf wirtschaftlichem Gebiet wurden Unternehmensgründungen, neue landwirtschaftliche Methoden und der Bergbau gefördert.

Revolution und eine "aufgeklärte Entwicklungsdiktatur"

Die Ausbeutung des Landes und die Unterdrückung führten aber schon Anfang des 20.Jahrhunderts zu einem politischen Befreiungskampf. Er sollte bis ins Jahr 1955 andauern. Nach zähen Verhandlungen erkannte Frankreich am 20.März 1956 Tunesien als unabhängigen Staat an. In der nachfolgenden sich konstituierenden Nationalversammlung gewann die laizistisch ausgerichtete Néo-Destour-Partei alle Sitze.

Einer der führenden Köpfe des kolonialen Widerstands, der Anwalt Habib Bourguiba wurde Premierminister und 1959 zum ersten Präsidenten Tunesiens gewählt. Die "aufgeklärte Entwicklungsdiktatur" Bourgibas führte durch eine Umverteilungs- und Bildungspolitik zum Entstehen einer Mittelschicht und einer Zivilgesellschaft. Eine starke Gewerkschaftsbewegung sorgte dafür, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu ihrem Recht kamen.

Nach der Unabhängigkeit waren die Frauen im Familienrecht den Männern gleichgestellt worden. Bourgibas gezielte Förderung von Frauen, führte dazu, dass der Frauenanteil bei der Beschäftigungsquote in Tunesien hoch ist. Ihre starke Rolle im sozialen Leben der Gesellschaft wirkt bis heute nach. Sie sind es vor allem, die einen totalen politischen Siegeszug der Islamisten nach der Jasmin-Revolution gegen Bourgibas Nachfolger Zine el-Abidine Ben Ali verhindert haben.

Die Jasmin-Revolution – Vorbild für den "Arabischen Frühling"

Auslöser der Revolte war die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt im marginalisierten Zentrum des Landes. Über das Internet verbreitete sich die Nachricht in Windeseile und führten in vielen anderen Landesteilen zu spontanen Kundgebungen und einem Volksaufstand, der im Jänner 2011 zum Sturz des bisherigen autokratisch regierenden Präsidenten Ben Ali führte.

Die tunesische Revolution wurde zum Vorbild für andere arabische Gesellschaften und vom Westen als "Arabischer Frühling" gefeiert - zu voreilig wie wir heute wissen. Aber für Tunesien schien der Weg frei für eine demokratische Entwicklung. Doch es sollte nicht so schnell dazu kommen. Denn die Islamisten, die keine Rolle in der Revolution spielten und deren Anführer unter Ben Ali in den Gefängnissen saßen, traten bestens organisiert - und mit viel Geld aus den Golfstaaten finanziert - auf die politische Bühne.

So gewann die Islamistische Ennahda-Partei die ersten Wahlen gegen eine Vielzahl an zerstrittenen progressiven Parteien. In der Regierung versuchten die Islamisten, die Scharia in die politische Praxis umzusetzen. Bekleidungsvorschriften und Verhaltensregeln im öffentlichen Raum wurden erlassen und die Gleichberechtigung der Frauen in der Verfassung infrage gestellt. In diese Zeit fielen auch zwei Morde an prominenten Gewerkschaftern und Parlamentsabgeordneten der Opposition.

Rücktritt der islamistischen Regierung

Angesichts dieser Gemengelage ging die tunesische Zivilgesellschaft wieder wochenlang auf die Straße. Die Ennahda-Regierung trat zurück. Bei den Neuwahlen ging das progressive Parteibündnis Nida Tounes als Siegerin hervor. Eine neue Verfassung wurde verabschiedet, die sich am französischen Recht orientiert. Zwar ist der Islam Staatsreligion und der Staat verpflichtet sich "das Heilige zu schützen", aber Tunesien ist zugleich das einzige arabische Land, das das islamische Rechtssystem Scharia schon 1959 in seiner Verfassung abgeschafft hat.

In der neuen Verfassung wird die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert (Art.6) inklusive das Recht keiner Religion anzugehören – ein Alleinstellungsmerkmal in der arabischen Welt. Ende 2014 wurde Beji Caid Essebsi erster demokratisch gewählter Präsident eines arabischen Landes, eine Vaterfigur für viele. Die Situation der politischen Freiheiten bezeichnen tunesische Intellektuelle heute als die beste in der arabischen Welt.

Große ökonomische und soziale Ungleichheit

Das zentrale Problem ist aber nach wie vor die große ökonomische und soziale Ungleichheit, die den gut entwickelten Norden und Osten des Landes vom vernachlässigten Westen und Süden Tunesiens trennt. Gerade in den Regionen, in denen die Jasmin-Revolution ihren Anfang nahm, herrscht große Enttäuschung. Es fehlt an Investitionen und Arbeitsplätzen.

Es wird das gleiche Wirtschaftsprogramm fortgeführt, das schon in der gehassten Diktatur nicht funktioniert hat: Tunesien als Exporteur landwirtschaftlicher Produkte, als Billig-Tourismus-Land und als verlängerte Werkbank mit zehnjähriger Steuerfreiheit für globale Konzerne. Angesichts der um das Doppelte angestiegenen Lebenshaltungskosten, sagen viele der arbeitslosen Jugendlichen im Hinterland: "Demokratie? Das ist etwas für die A-Klasse. Was habe ich von der Freiheit, wenn ich nicht die Möglichkeit habe, eine Familie zu gründen?"