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ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

... Musik und ihre Bilder

Heuer appelliert das Festival Wien Modern an die Imaginationskraft seines Publikums: "Neue Musik geht unter die Haut und malt Bilder im Kopf", heißt es in der Festivalbroschüre. Radiohörer wissen ohnehin, dass das Ohr mehr als das Auge sieht.

Die klanglich hervorgerufenen Bilder sind gegenüber den visuellen Eindrücken tatsächlich im Vorteil. Sie sind beweglich, können in der Erinnerung an Farbe gewinnen, an Deutlichkeit, an Abstraktion, an Sinnlichkeit, an Emotion oder sie können all das allmählich verlieren. Niemand sonst hat sie gesehen, niemandem sind sie Rechenschaft schuldig.

Messiaens "Turangalîla-Symphonie"

Unter der Leitung seines Chefdirigenten Cornelius Meister tritt das ORF Radio-Symphonieorchester im Rahmen des Festivals Wien Modern mit zwei Hauptwerken des 20. Jahrhunderts auf, die bis heute ihre bildstarke Wirkung entfalten. Die imaginären Eindrücke der "Turangalîla-Symphonie" aus der Feder des Olivier Messiaen mögen abstrakt bleiben, doch die Intention des Komponisten war es nicht. Auf ihn würde Dmitri Schostakowitschs Wort zutreffen, dass es keine gute Musik geben kann, die nicht insgeheim ein Programm verfolgt.

Eines der schillerndsten Werke der gesamten Orchesterliteratur in herausragender Besetzung. Mag sein, dass Sie die nackten goldenen Karyatiden im Musikverein hinterher mit anderen Augen sehen ...

Das Wort Turangalîla stammt aus dem Sanskrit und bezeichnet in der indischen Musiktheorie ein bestimmtes rhythmisches Muster. Dies gefiel Messiaen, der in den 1940er Jahren Emotion und Ordnung zu einen suchte. Was aber ist emotionaler als die Liebe? "Die Turangalîla-Symphonie" eröffnet eine Trilogie von Orchesterwerken über den Tristan-Mythos. Bis heute faszinieren an diesem abendfüllenden Orchesterwerk die Klänge der Ondes Martenot, ein 1928 erfundenes, dem Theremin verwandtes elektronisches Tasteninstrument, das Sinustöne gleich Alien-Gesängen in den Konzertsaal sendet.

"Das Floß der Medusa" von Hans Werner Henze

Wurde die "Turangalîla-Symphonie" in den Vereinigten Staaten im Jahre 1949 durch Leonard Bernstein uraufgeführt, so war im Fall eines berühmt-berüchtigten Oratoriums von Hans Werner Henze 1971 das ORF Radio-Symphonieorchester Wien der Geburtshelfer. Das war durchaus nicht im Sinne des Erfinders. Eigentlich hätte das Werk "Das Floß der Medusa" 1968 in Hamburg uraufgeführt werden sollen, traf dort aber auf eine politisch derart aufgeheizte Atmosphäre, dass es zum Eklat kam: Zwei Stunden lang lieferten sich Publikum, Chormitglieder und Komponist Schreiduelle - so lange und heftig, das schließlich die Polizei einschreiten musste.

Die Medusa war das Flaggschiff eines französischen Geschwaders, das 1816 kurz vor Senegal Schiffbruch erlitt. Rasch waren die Rettungsboote von ranghohen Besatzungsmitgliedern und Beamten besetzt; für 154 Seeleute und Passagiere blieb nur ein Floß. Als die Schiffbrüchigen 13 Tage später durch bloßen Zufall gesichtet wurden, waren nur noch 15 am Leben. Deren Martyrium erboste die Franzosen derart, dass sie wenige Jahre später die Bourbonendynastie in Schutt und Asche legen sollten. Auch Henze deutete die Begebenheit als Parabel auf das gesellschaftliche Gefälle zwischen Gewinnern und Verlierern des Kapitalismus.

Morgenjournal | 02 11 2017

Sebastian Fleischer

Senegalesische Flüchtlinge in einem Schlauchboot

AP/SANTI PALACIOS

Heute darf "Das Floß der Medusa" angesichts der Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer als Werk der Stunde gelten. Das Orchester umfasst seltene Instrumente wie Ofikleiden, Heckelphon und Oboe d’amore, die eine ungemein vielfarbige und schillernde Musik mit anklagenden, aber auch mit poetischen Momenten hervorbringen. Ein Sprecher erzählt die Geschichte, ein Bariton singt den Part des Überlebenden Jean-Charles, der Sopran verkörpert den Tod, "la mort". Chor und Knabenchor werden szenisch eingesetzt: Aus dem "Chor der Lebenden" wird im Laufe des Abends der "Chor der Toten".

Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung seines Chefdirigenten Cornelius Meister spielt "Das Floß der Medusa" zur Eröffnung von Wien Modern. Hier werden die schrecklichen Bilder der Schiffs- und Gesellschaftskatastrophe ganz konkret. Ö1 sendet das Konzert live.

Text: Christoph Becher, Intendant des RSO Wien

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Wien Modern - 21. Oktober bis 1. Dezember 2017
RSO Wien