Frau blättert im Tagebuch

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Tonspuren

Die Tagebücher von Schriftsteller/innen

Leo Tolstoi tat es, Franz Kafka tat es und Virginia Woolf tat es. Ob als tägliche Übung, Beschwerdestelle, Kummerkasten, Beichtstuhl, zur Sammlung oder Selbstfindung – die Zugänge der Diaristen sind dabei höchst unterschiedlich und changieren oftmals zwischen banal und hochnotpeinlich.

Während etwa Erich Mühsam sorgsam den Fortgang seines Trippers protokollierte, fühlte Thomas Mann sich bemüßigt seine täglichen Nahrungseinheiten festzuhalten: „Abendessen von Rühreiern und Spinat, den Frau P. sehr gut mit Zusatz von Rahm und Eidotter bereitet. (Thomas Mann, 21. März 1921)“. Der Verfasser opferte seine halbe Bibliothek für mit derart Inhalten ausgestattete Tagebücher, deren kaum zu beschreibender Zauber sich nach und nach offenbart:

Heute bedeckt und kühl. Man hat die Heizung wieder in Gang gesetzt. Telephonarbeiter im Haus, davon einer mit Hasenscharte.“ (Thomas Mann)

Entlastung durch Versprachlichung

Der Germanist Michael Maar ist der zarten Komik dieser und tausender anderer Einträge verfallen und hat Tagebücher aus vier Jahrhunderten zusammengetragen und geordnet. Den historischen Bogen spannt er dabei von der Entdeckung Amerikas bis zur Facebook-Pandemie. In seinem Buch „Heute bedeckt und kühl“ führt er den Prozess der Versprachlichung als Hauptmotiv für das Schreiben an. Denn Versprachlichung bedeutet Entlastung.

"Es gibt im Tagebuch von Thomas Mann eine berühmte, jedenfalls für mich berühmte sehr komische Stelle, wo er klagt darüber, dass er körperlich und seelisch darunter leide, dass die Unterkleidung der Nummer 4 zu klein , der Nummer 5 ihm indessen zu groß sei. Das ist ein großes Unbehagen, aber in dem Moment, wo er es versprachlicht, kann er das wenigstens maßgeschneidert formulieren. Also das steckt dahinter, dass wenn etwas benannt ist, fast schon gebannt ist. Fast."

Tagebucheintrag der 8-jährigen Andrea Grill

Permanente Selbstentblößung

Sogenannte „Tagebuch Slams“, bei denen besonders Mutige ihre glorios blamablen Tagebuch-Ergüsse aus Teenagerzeiten einem wildfremden Publikum vortragen, erfreuen sich gerade größter Beliebtheit. Auch die Autorin dieser Zeilen hat in ihren alten Tagebüchern gestöbert und ist auf entwaffnend ehrliche Szenen einer Landjugend gestoßen. Mit elf Jahren notierte sie: "Ein weiterer Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Wir – Hanna, Tini, Vroni, Peter, Heckenknirps und ich (Namen von der Redaktion geändert) – sind zur Post runtergegangen. Dabei haben wir uns über das Thema 3. Welt unterhalten. Es war sehr lustig." (Postelgraben, 4. April 1995).

Unverfälschte Erinnerungen

Warum schreibt man Tagebücher und warum liest man sie so gern – auch abseits amüsanter Stilblüten? Der neunzehnjährige Gottfried Keller weiß eine Antwort zu berichten: "Ein Mann ohne Tagebuch ist, was ein Weib ohne Spiegel. Er verliert seine Haltung, seine Festigkeit, seinen Charakter, und wenn er seine geistige Selbstständigkeit dahin gibt, so wird er ein Tropf." Oscar Wilde – ebenfalls eifriger Diarist – hat eine Vermutung: Der Mensch neige dazu sich im Rückblick zu betrügen, Tagebücher seien die einzige Möglichkeit, die Erinnerung unverfälscht zu erhalten. Gerade Schriftsteller/innen stehen allerdings immer wieder im Verdacht, beim Verfassen bereits auf eine Veröffentlichung - zumindest für die Nachwelt - zu schielen. Wie geht es heimischen Autor/innen dabei? Clemens Berger, Mieze Medusa, Markus Köhle, Andrea Grill und Robert Prosser geben Auskunft.

Service

Michael Maar, "Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf", C.H. Beck