Jutta Schwerin

INGRID STEINMEISTER

Im Gespräch

Die Architektin und politische Aktivistin Jutta Schwerin

Am Abend des 9. November 1989, als die Meldung von der Öffnung der Mauer den Bundestag in Bonn erreichte, stimmten einige Abgeordnete der CDU/CSU ganz spontan die deutsche Nationalhymne an. Das war zum letzten Mal am 17. Mai 1933 nach einer außenpolitischen Erklärung Hitlers passiert. Die 1989 anwesenden Abgeordneten aller Fraktionen erhoben sich von ihren Sitzen. Manche sangen mit, die meisten schwiegen. Nur drei Abgeordnete der GRÜNEN , drei Frauen, verließen aus Protest den Saal. Eine von ihnen war Jutta Schwerin.

Zu diesem Zeitpunkt saß die ehemalige SPD-Stadträtin von Ulm, Architektin, Feministin, Friedensaktivistin, Mutter zweier Kinder und bekennende Lesbe bereits seit vier Jahren als Abgeordnete der GRÜNEN im Bundestag.

Austritt aus der Partei der GRÜNEN

Eigentlich war ihr Spezialgebiet berufsbedingt Raumordnung und Stadtplanung, aber immer öfter äußerte sie sich zu geschichtlichen Fragen. So auch, als im November 1988 der Bundestag eine Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht veranstaltete. Der Ältestenrat des Bundestages hatte entschieden, dass nicht Vertreter/innen der Opfer, sondern der Bundestagspräsident selbst die Festrede halten sollte.

Als Philipp Jenninger seine mittlerweile legendär gewordene, misslungene Rede hielt, rief Schwerin dazwischen und verließ den Saal. Tags darauf demissionierte Jenninger. 1994 trat Schwerin aus der Partei der GRÜNEN aus, gerade rechtzeitig, um – wie sie in ihrer Autobiografie Ricardas Tochter schreibt – die Aufgabe der pazifistischen Position unter Joschka Fischer nicht mehr als Parteimitglied miterleben zu müssen.

Buchcover

Spector Books

Im Jahr 2012 verfasste Jutta Schwerin eine Doppelbiografie über sich selbst und ihre Mutter Ricarda.

Flucht vor den Nazis

Der Widerspruchsgeist ist Jutta Schwerin schon in die Wiege gelegt worden. Sie kommt am 25. Februar 1941 in Jerusalem, im schönen Stadtteil Talpiot, zur Welt. "In jener Nacht blieb es dunkel in der Stadt, kein Licht brannte auf den Straßen. Ein Krieger namens Erwin Rommel stand mit seinen Truppen in Libyen vor der ägyptischen Grenze und trachtete nach einem Sieg, der unsere Familie und viele andere Menschen in Palästina das Leben gekostet hätte."

Jutta Schwerins Eltern, Heinz und Ricarda, wandern im August 1935 mit einem britischen Touristenvisum von Triest aus nach Palästina aus. 1931 sind die beiden Studierenden wegen kommunistischer Umtriebe aus dem Bauhaus in Dessau ausgeschlossen worden. Danach wandern sie fast vier Jahre durch Europa, auf der Flucht vor den Nazis. In Jerusalem halten sie sich mit der Produktion von hölzernem Kinderspielzeug im Bauhaus-Stil über Wasser.

Schon früh politisch aktiv

Am 1. März 1945 kommt ihr zweites Kind zur Welt: Tom Segev, heute einer der bedeutendsten Historiker Israels. Im Januar 1948 verunglückt Vater Heinz bei einem militärischen Einsatz tödlich. Jutta und Tom wachsen von nun an mit Mutter Ricarda auf, die sich in den kommenden Jahren als Fotografin einen Namen macht.

Als Jutta zum Militärdienst einberufen wird, weigert sie sich und schreibt einen Brief an Staatspräsident Ben-Gurion. Er lädt sie zu einem Gespräch ein – und sie wird von ihrer Pflicht entbunden. 1960 entscheidet sich Jutta Schwerin, in der Schweiz eine Stelle als Erzieherin in einem Kinderheim anzunehmen. Zwei Jahre später beginnt sie in Stuttgart ein Studium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste. Jutta Schwerin wird Architektin. Und politische Aktivistin. Beides ist sie bis heute geblieben.

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