Alte Post und Briefe

LAURENT ZIEGLER

Moment am Sonntag

Die Arbeit mit dem Nachlass

"Ich glaube, ich sollte mir eine Deadline setzen", seufzt eine grauhaarige Frau im Parka, Kerze in der Hand. Sie steht auf dem Wiener Zentralfriedhof, vor'm Grab ihrer Mutter.

Die hätte heute ihren 99. Geburtstag. Sie starb vor zwei Jahren, auch schon ein Zeiterl her, aber sie, die Tochter, schafft es nicht, "die" Wohnung, wie sie mehrmals sagt, auszuräumen, obwohl sie im selben Haus lebt. Sie müsste nur den Gang entlang gehen, die Tür aufsperren und beginnen.

Nähseiden

LAURENT ZIEGLER

Mutters Wohnung - Wiener Altbau mit Salons und Herrenzimmer - ist ein Sammelsurium von: 120 Hirschgeweihen, mindestens, lebensgroßen Ahnenbildern, Ansichtskarten, Feldpost, Kinderkleidchen (die der Tochter), Geschirr, tonnenweise, Bettwäsche mit Monogramm, Tischwäsche und was nicht noch alles.

Als ehemalige Beamtin, die in den 1960er Jahren pensioniert wurde, sammelte die Mutter darüber hinaus Amtskorrespondenz. Jawohl: von damals. Kaum führt die Tochter sich all das vor Augen, den Wust an Dingen und Zeug, lässt sie den guten Vorsatz bleiben, mit dem Räumen zu beginnen. Wie gut, dass "die" Wohnung eine Eigentumswohnung ist. Niemand drängt.

Bettwäsche und Weißware

LAURENT ZIEGLER

Wie dreht man den Freunden senfgelbe Fauteuils an?

Einen Nachlass "weg" zu räumen, oder vielleicht sollte man sagen, aufzulösen, bringt viele Menschen zur Verzweiflung; das ist nicht übertrieben. Die Salzburger Künstlerin Mischa Reska schleppte, klaubte und sortierte ein halbes Jahr, um das Haus ihrer Eltern leerzukriegen.

Drei Etagen. Mit dem Lebensgefährten fuhr sie hundertmal den Mistplatz an, "ein Bild kannst ja nicht einfach so wegwerfen. Der Rahmen muss zum Holz, das Glas zum Glas, das Papier zum Papier." Abgesehen von der logistischen Meisterleistung, die nicht ganz ohne Muskelkraft zu vollbringen ist: was darf man nicht wegschmeißen, weil es schlichtweg schade ist?

Sessel und Kreuz an der Wand

LAURENT ZIEGLER

Ihre Mutter hätte ein Händchen für Design gehabt und aus feinen Stoffen wunderbare Kleider geschneidert, erzählt Mischa Reska. Klar, sie nahm ein paar Sachen davon. Und dann? "Ich versuchte, Freunden Einiges schmackhaft zu machen, vorsichtig", erzählt die 47-Jährige, aber "es hat doch schon jeder alles". Zumindest hatte niemand Platz. Und sie selbst hat das genauso wenig. In ihrem Wiener Atelier jedenfalls stehen jetzt zwei bullige senfgelbe Fauteuils auf Rollen - "von der Mama".

Die "Nachlass-Hopper" kommen mit blauen Ikea-Säcken

Um Leuten in ihrem Chaos zu helfen, veranstaltet der Wiener Antiquitäten- und Edeltrödelhändler Christof Stein seit fünf Jahren das sogenannte "Nachlass-Hopping". Sobald er das Okay von den Angehörigen hat, bzw. diese bitten ihn darum, öffnet er die betreffende Wohnung für fremde Menschen, die er über Facebook zusammentrommelt - so viele, wie die Wohnung verträgt; da gehe er behutsam vor.

Mit einem "Passierschein" von 15 Euro dürfen die Räumwilligen hinein und sich mitnehmen, was immer sie wollen. Das tun sie gerne, wie auf Ö1 ("Moment am Sonntag") zu hören ist; manche richtig "gekonnt".

Selbstverständlich ist die Wohnung, nachdem sie auf diese Weise abgegrast worden ist, noch lange nicht leer. Christof Stein rückt dann mit dem Lkw an, Vieles wird in eines seiner Geschäfte gebracht oder zum Flohmarkt. Oder Kolacek kommt, Alfred Kolacek; auch er ein professioneller Entrümpler mit angeschlossenem Altwarengeschäft. "Was die Leute so horten", staunt er, manchmal fasst er es nicht: "700 Kilo Zucker haben wir in einer Wohnung gefunden, in einer eingebauten Schräge, und 40 Liter Himbeersaft!"

Puppe

LAURENT ZIEGLER

Laurent Ziegler, ein Wiener Fotokünstler, greift sich an den Kopf. Er kennt das. Wenn man die Bilder betrachtet, die er gemacht hat, mag man ihm die Schilderungen fast nicht glauben, von wegen, er musste wochenlang Berge abtragen, gemeinsam mit seiner Mutter.

Seine Großmutter war gestorben, vergangenen Sommer, und er, der mehr oder weniger bei ihr aufgewachsen war, eben in dieser Wohnung, hatte den Großteil der Arbeit zu machen. Hätte. Denn er kapitulierte, ließ irgendwann die "Nachlass-Hopper" kommen.

Lampenständer und Kristallglas

LAURENT ZIEGLER

Die Großmutter war ein Flohmarktmensch gewesen, eine Sammlerin, die ständig etwas in die Wohnung trug und nichts heraus ließ. War's wirklich so schlimm? "Ja, grauenhaft!" sagt er; er würde schimpfen, wenn das seinem Naturell entspräche: "Grauenhaft! Wir trugen einmal dreißig Müllsäcke hinaus aus der Wohnung, und es sah genauso aus wie vorher."

Service

Laurent Ziegler