Dame schaut sich in einen Handspiegel

JULIA SOLOVIEVA

Hörbilder

Irmgard im Glück

Ein Frauenleben. Von Julia Solovieva (NDR 2016).

Irmgard ist 96 Jahre alt, nein, stimmt nicht, bald wird sie 97 Jahre! Ihr Mann ist tot, ihr Sohn ist tot, fast alle ihre Freundinnen sind längst gestorben. Aber Irmgard ist nicht unglücklich und nicht einsam. Seit einigen Jahren unterhält sie eine Liebesbeziehung mit einem jüngeren Mann, einem verheirateten Mann. Die beiden treffen sich einmal pro Woche in Irmgards Reihenhaus, essen, trinken einen Schluck Wein, sprechen miteinander, lieben sich.

Darüber kann Irmgard mit keinem sprechen. Was würden die Leute über Irmgard denken? Sie würden den Kopf schütteln, sie würden Irmgard an ihr Alter erinnern, sie würden Irmgard schlechte Laune machen, sie würden sagen, dass Irmgard sich endlich ändern solle und das Leben nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfe.

Irmgard im ärmellosen Top.

JULIA SOLOVIEVA

Aber Irmgard will und kann sich nicht ändern. Sie ist so wie sie ist. Sie nimmt das Leben leicht und hat es auch leicht. Sie fühlt sich lebendig, sie fühlt sich immer noch wie eine Frau, oder, besser gesagt, wie ein Weib, das Wort "Weib" mag sie sehr.

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
(Goethe, Faust II)

Faust gibt allen Versuchungen nach, um am Ende die Idee des „Ewig-Weiblichen“ als Geschenk anzunehmen. Das „Ewig-Weibliche“ versteht sich als transzendente Kraft, die Menschen in das ewige schöpferische Leben führen kann.

„Faust“ begleitet Irmgard schon fast ihr Leben lang: als erstes Reclam-Heft in der Schule, als Büchlein, das ihr in einem Krankenhaus in die Hände fiel, als gebundene Ausgabe, die auf ihrem Nachttisch liegt, voll eigener Randnotizen.

Irmgard wurde 1920 in Pommern geboren, ihre Mutter starb sehr früh, die Großmutter war ihre einzige Bezugsperson. Im Zweiten Weltkrieg ist sie Telefonistin bei der deutschen Wehrmacht in Belgien und Frankreich. Sie ist jung, ihr erstes Liebesverhältnis ist ein älterer verheirateter Mann: „Da fühlte ich mich als Gretchen“. Später verliebt sie sich in einen deutschen Flieger. Sie ist kein kleines Gretchen mehr, sie wird zur Geliebten. Der Flieger wird abgeschossen: an ihn erinnert sich Irmgard immer noch.

Nach dem Krieg kommt sie nach Hamburg mit zwei Koffern voller schöner französischer Klamotten. Sie heiratet, bekommt zwei Kinder, arbeitet in der Gartenbaufirma ihres Mannes. Er ist nicht der “Richtige“, aber sie bleiben zusammen. Liebhaber hat sie keine, „wegen des Mangels an Gelegenheiten“. Einmal rezitiert Irmgard bei einem Fest den „Osterspaziergang“ - „Hier bin ich Mensch, hier darf ich`s sein“- und erntet großen Applaus. Das macht ihr Freude und mit großen Fragen beschäftigt sich Irmgard auch: was ist der Sinn des Lebens? Was bedeutet es „Mensch zu sein“?

Sie beginnt in verschiedenen Amateur-Gruppen Theater zu spielen. Sie probiert verschiedene Rollen aus, auf der Bühne und zu Hause. Irgendwann stirbt Irmgards Ehemann, auch ihre Kolleg/innen aus der Theatergruppe gehen fort. Aber sie lässt sich nicht unterkriegen, sie liebt ihren Alltag zu Hause: spazieren gehen, essen, tanzen. „Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst“, sagt sie heute.

Ich sehe Irmgard als eine Frau von nebenan, eine ganz gewöhnliche Hamburgerin, die handfest und doch mit einer Leichtigkeit, mit Lebenslust, Lebensfreude und Humor ihren Weg geht und die den Mut hat, auch im Alter ihr Liebesglück zu suchen.

Text: Julia Solovieva