Der Mond steht über einem Wald

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Salzburger Nachtstudio

Über die Kulturgeschichte der Nacht

Das Phänomen der Nacht ist vielschichtig: Es ist die Welt des Schlafes, des Traumes, der Grenzüberschreitung. Die Nacht fungiert als Gegenwelt zum rational strukturierten Alltag, zur Ordnung der Vernunft. Sie stellt im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault eine Heterotopie dar – eine Welt des ganz Anderen, wie sie in anarchischen Träumen oder Albträumen zum Ausdruck kommt.

Dieser Auflösungsprozess des Rationalen überforderte die meisten Philosophen. Die Propagandisten der Helligkeit der Vernunft verfügten über kein Instrumentarium, die Dimension des Nächtlichen zu erkunden. Meist waren es Dichter und Maler, die in ihren Texten und Gemälden das Terrain des Nächtlichen erkundeten.

Am Beginn einer Kulturgeschichte der Nacht steht die Theogonie des antiken Autors Hesiod, der das Entstehen der Götter aus der dunklen Leere des Chaos nachzeichnete. Eine zentrale Rolle im Götter-Pantheon spielt Nyx, die zahlreiche Kinder zeugte, die dem Bereich des Nächtlichen zuzuordnen sind. Neben den Göttern der Zuneigung, des Traumes und des Schlafes gebar sie Kinder, die als Todes- oder Unglücksdämonen fungieren. Es sind dies Moiros und Thanatos, die Götter des sanften Todes, und Ker, die Göttin des gewaltsamen Todes.

"Abwärts wend ich mich, zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht."

Eine konträre Facette des nächtlichen Erlebnisspektrums beschreibt der spanische Karmelitermönch Johannes vom Kreuz, der von 1542 bis 1591 lebte. Es handelt sich um das mystische Erleben, um das Verschmelzen mit dem Absoluten, das erst erfolgt, wenn das Tagesbewusstsein der Normalität verlassen wird.

In seinem Gedicht Die dunkle Nacht der Seele geht es um die mystische Vereinigung der Seele mit Gott. Ein ähnliches Erlebnis beschreibt Novalis, einer der führenden Dichter der Frühromantik, in seinem Werk Hymnen an die Nacht. "Abwärts wend ich mich, zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht." Mit diesen Worten beginnt eine Expedition in die Nacht. Das poetische Ich verspürt eine Ahnung, "einen Dämmerungsschauer" des Transzendenten, der die Begrenzungen der personalen Identität sprengt.

Die nächtliche Ruhe fungiert als "die Verkünderin heiliger Welten". In der Nacht gelten nicht länger die Regeln der Alltagswelt; sie ermöglicht eine Begegnung mit dem Unendlichen und löst eine kaum zu beschreibende Begeisterung aus.

"Es war eine von jenen unheimlichen Nächten, wo Licht und Finsterniß schnell und seltsam mit einander abwechselten."

1804 erschien das Buch Nachtwachen des Literaten und Theaterdirektors Ernst August Klingemann, der das Pseudonym Bonaventura verwendete. Der Protagonist ist der Nachtwächter Kreuzgang, der auf seinen nächtlichen Gängen durch die Stadt das Leben der Normalbürger beobachtet, die sich behaglich in ihren Wohnungen eingerichtet haben, und macht sich Gedanken über die Absurdität und Nichtigkeit des Lebens.

Die oft fragmentarischen Erzählungen und Selbstgespräche des Nachtwächters kreisen um die fixe Idee, dass die Welt nicht zur Ordnung, sondern zum Chaos strebe. Sein Projekt, das für zahlreiche romantische Kunstschaffende charakteristisch ist, lautet: sich selbst "zu einer absoluten Verworrenheit" zu bringen.

Das Bild "Der Albtraum" von Johann Heinrich Füssli

"Der Albtraum" von Johann Heinrich Füssli

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Eine ähnliche Intention findet sich auch in den Gemälden romantischer Künstler wie Johann Heinrich Füssli, William Blake oder Francisco de Goya. Lang vor Sigmund Freud befasste sich eine Generation von Maler/innen mit der Welt des Irrationalen und des Unbewussten. So schilderte Füssli, der von 1741 bis 1825 lebte, in seinen Gemälden eine Sphäre des Grauens und des Dämonischen.

Wie kein anderer Künstler seiner Zeit bevölkerte er das nächtliche Reich mit Dämonen und Elfen und ließ die Träumenden Lust oder Schrecken erleben. Visionen finden sich auch in den späten Gemälden und Zeichnungen von Francisco de Goya, in denen gewalttätige Episoden aus der griechischen Mythologie (Saturn verschlingt eines seiner Kinder) und dem Alten Testament (Judith und Holofernes) in düsteren Bildräumen dargestellt werden.

Der Bereich der Nacht ist jedoch nicht nur negativ zu sehen: Indem der Künstler sich auf die Nachtseite der menschlichen Existenz einlässt, lernt er die destruktiven Kräfte kennen und versucht, sie im Kunstwerk zu bannen. Ähnlich wie ein Psychotherapeut schafft der Künstler damit einen Denkraum der Besonnenheit: "Der Künstler heilt, indem er bewusst macht."