Buchcover, Michael Chabon: Moonglow

KIEPENHEUER & WITSCH

Roman

"Moonglow" von Michael Chabon

Eine Familiengeschichte zwischen Dichtung und Wahrheit.

Als Alger Hiss, ein dubioser, wegen Meineids verurteilter ehemaliger amerikanischer Regierungsbeamter aus dem Gefängnis kam, tat er sich schwer, eine Stelle zu finden. Dank seiner Beziehungen bekam er schließlich eine als Vertreter für Haarspangen. Dafür aber musste ein anderer seinen Hut nehmen: "das am schwersten schuftende, aber erfolgloseste Mitglied der Verkaufsmannschaft".

Der Geschasste, der eigentlich als "ruhiger Typ" galt, wollte sich das freilich nicht gefallen lassen. Er stürmte das Büro des Direktors, schlang ein Telefonkabel um den Hals des Mannes und war drauf und dran, ihn zu erdrosseln, als das beherzte Eingreifen einer mit einem Brieföffner bewaffneten Sekretärin den Wutanfall des Angreifers jäh stoppte. Das geschah im Mai 1957. Drei Jahrzehnte später, auf seinem Totenbett, erzählt der zeitlebens eher wortkarge Ex-Vertreter diese und andere Geschichten aus seinem Leben seinem Enkel Michael, einem Schriftsteller. "Erkläre alles", wünscht sich der Alte. Der Enkel solle seine Erinnerungsbruchstücke zu einer Geschichte zusammenfügen, die etwas bedeute.

Keine Erklärungen

Der Bruder seines Großvaters sei einst dem ominösen Alger Hiss über den Weg gelaufen, so Michael Chabon. Diese vermeintliche Begegnung war Ausgangspunkt für seinen Roman "Moonglow". Trotzdem basiert der im Roman namenlose Großvater auf dem des Autors, der wiederum als Ich-Erzähler wiederzuerkennen ist.

Der Roman erzählt von einer außergewöhnlichen Familie - nicht chronologisch-linear, sondern mit großen Zeitsprüngen und erkennbarer Lust an der bizarren Episode. Eigene Recherchen des Erzählers ergänzen dabei die Erinnerungen des Großvaters, dessen ursprünglichem Wunsch freilich nicht nachgekommen wird, nämlich alles zu erklären. Schließlich gibt nicht die eine, verbürgte Familiengeschichte, sondern viele Geschichten innerhalb einer Familie, die sich teilweise widersprechen, einiges offen und manches unerklärlich erscheinen lassen.

Raketenbau

Als er nach seinem Ingenieursstudium keine Arbeit fand, verpflichtete sich der Großvater bei der Army und war Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland stationiert, wo er für den militärischen Nachrichtendienst arbeitete und eine Liste mit Namen von "Nazi-Professoren" erhielt, die man finden und gefangen nehmen sollte. Darunter auch der Name eines SS-Sturmbannführers, der als Deutschlands führender Raketeningenieur galt: Wernher von Braun.

"Nie hat mein Großvater sich etwas sehnlicher gewünscht, als der Mann zu sein, der diesen Wernher von Braun fand", meint der Erzähler. In Wernher von Braun sah der amerikanische GI zunächst einen Gleichgesinnten, den, wie ihn, die Faszination für Raumfahrt und Raketen gepackt hatte. Erst als er entdeckte, dass Raketen als Massenvernichtungsmittel entwickelt und von Zwangsarbeitern in unterirdischen Arbeitslagern hergestellt wurden, erkannte er in von Braun einen Verbrecher, den er zur Strecke bringen wollte, bevor dieser sein technisches Know-how den Amerikanern andienen und unbestraft davon kommen kann. Er scheiterte. Der Nazi von Braun machte nach dem Krieg bei der NASA Karriere.

Tragische Liebe

Bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung lernte der Ingenieur, der in der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft lange nicht wirklich Fuß fassen konnte, eine junge, emigrierte Jüdin kennen. Er fühlte sich sofort hingezogen zu dieser Frau, die schön und intelligent, aber auch rätselhaft und verletzlich wirkte, und heiratete sie.

Stand der Großvater - abgesehen von gelegentlichen Wutausbrüchen - für verantwortungsvolles Handeln und analytischen Verstand, so zeigte sich die Großmutter als phantasiebegabte Erzählerin mit einem Hang zum Düster-Abgründigen. Während ihre frühe Karriere beim Fernsehen auf ein "normales" Leben hinzudeuten schien, wurde sie später mehr und mehr Gefangene ihrer alptraumhaften Vergangenheit.

Sie zündete einen Baum an, lief nackt herum oder verschwand spurlos, sie hielt sich für eine Berufene und wollte in einen Orden eintreten - und landete in der Psychiatrie. Immer wieder erwähnte sie ein "gehäutetes Pferd", das sie in ihren Träumen verfolgte - ein Bild, das auf eine Vergewaltigung während der Nazizeit hinzuweisen schien. Der Großvater, ohnmächtig angesichts der Traumata seiner Frau, flüchtete sich in den Modellbau. Auf dem Verschlussdeckel eines Kaffeebechers baute er in jahrelanger Kleinarbeit eine Miniaturmond-siedlung als Refugium für die Seinen.

Fakten und Fiktion

Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Tod des fiktiven Großvaters bringt der Erzähler dessen Geschichte zu Papier. "Moonglow" - benannt nach einem Benny-Goodman-Song, der laut Michael Chabon in seiner melancholischen Stimmung jener des Romans entspricht - präsentiert eine unglaubliche, eine berührende und an überraschenden Wendungen reiche, wenn auch in manchen Episoden etwas weitschweifige Familiengeschichte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Sie macht deutlich, dass die "kleine", private Geschichte nicht zu erzählen ist ohne die große, historische. Dabei macht sich der Autor einen Spaß daraus, die Grenzen zwischen Fakten und Fiktivem, zwischen Recherchiertem und Imaginiertem zu verwischen - und fügt, wie bei Sachbüchern, seinem Text zahlreiche Fußnoten bei.

Service

Michael Chabon, "Moonglow", Verlag Kiepenheuer & Witsch

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