Angestellte in einem Gebäude

AFP/DANIEL ROLAND

Vom Fleiß in die Selbstausbeutung

Noch in den 1950er Jahren suchten Arbeitgeber nach ehrlichen, fleißigen und braven Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Heute sind neue Arbeitstugenden gefragt: Flexibel, motiviert und leistungsbereit muss man sein. Die Mitarbeiter/innen werden zu Unternehmer/innen im Unternehmen - und die Selbstausbeutung zur neuen Arbeitsmoral.

Wohlfühlecken, Tischfußball und "Social Events": Große Unternehmen sowie Start-ups werben mit nahezu paradiesischen Arbeitsbedingungen. Der Arbeitnehmer ist nicht mehr an seinen Arbeitsplatz gebunden. Gearbeitet werden kann überall, zu Hause, in der Bahn oder im Schwimmbad. Das Smartphone und der Laptop machen dies möglich. Flexible Arbeitszeiten werden als Befreiung der Arbeitnehmer verkauft.

In der Praxis zeigt sich jedoch, dass Menschen mit flexiblen Arbeitszeiten dazu neigen, Mehrarbeit zu leisten. Beruf und Privatleben verschwimmen zunehmend. Das Unternehmen wird dafür zur Identifikationsfläche und die berufliche Tätigkeit zur primären Identifikationskategorie. Der Job dient nicht nur der Existenzsicherung, sondern wird zum zentralen Bestandteil des Selbst.

Facebook-Office in Austin

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Neue Legitimationsform des Kapitalismus

Flexibel, innovativ und kreativ müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heute sein. Und ständig bestrebt, sich selbst in der Arbeit zu verwirklichen. Dazu tragen Projektarbeit und flache Hierarchien bei. An die Stelle des Chefs tritt die Eigenverantwortung. Die Arbeitnehmer/innen werden zu Unternehmer/innen im Unternehmen.

Laut den beiden französischen Sozialwissenschaftlern Luc Boltanski und Ève Chiapello inkorporiert der Kapitalismus die gegen ihn vorgebrachte Kritik. In ihrem Buch "Der neue Geist des Kapitalismus" beschreiben sie, wie die Forderungen der 68er Bewegung nach Freiheit, Autonomie und Authentizität, die sie als Künstlerkritik bezeichnen, aufgenommen und zur neuen Legitimationsform des Kapitalismus erhoben wurden.

Fabriksarbeiterin, 1957

Fabriksarbeiterin, 1957

AP/CTK/KAREL MEVALD

Pünktlichkeit und Pflichterfüllung mussten gelernt werden

Noch in den 1950er Jahren suchten Arbeitgeber nach ehrlichen, fleißigen und braven Mitarbeitern. Das kann man in den Stellenanzeigen dieser Zeit nachlesen. In den 1970er Jahren taucht dann plötzlich die Forderung nach Flexibilität auf, die in den 1990er Jahren nahezu "explodierte". Heute wollen Arbeitgeber nicht nur flexible, sondern auch motivierte, leistungsbereite und einsatzwillige Arbeitnehmer. Die Entgrenzung der Arbeitswelt lässt sich im Mikrokosmos der Stellenanzeigen gut beobachten.

Besonders sichtbar wird der neue Geist des Kapitalismus, wenn man ihm die fordistische Arbeitsweise gegenüberstellt. Am Beginn der Industrialisierung mussten den Arbeitern die Tugenden Fleiß, Pünktlichkeit und Pflichterfüllung erst einmal beigebracht werden. Der regelmäßige Arbeitsrhythmus der Fabrik war der vorindustriellen Gesellschaft fremd. Sie strukturierte ihren Tagesablauf nach den Jahreszeiten und den Erfordernissen der Landwirtschaft und des Handwerks.

In den Fabriken setzte man daher auf Kontrollen und Strafen. Verboten waren das Fortlaufen vor dem Läuten, das Singen unpassender Lieder oder das Schlafen während der Arbeitszeit.

Die Selbstausbeutung wird zur neuen Arbeitsmoral

Nicht nur Fabrikgesetze sorgten für Disziplin, sondern auch die baulichen Gegebenheiten. Fabrikmauern, Eingangstore und kontrollierte Zugangswege wurden geschaffen. Um die Trunksucht zu bekämpfen, wurden Naturalienlöhne eingeführt. Dieses sogenannte Trucksystem zwang die Fabrikarbeiter zum Einkauf im betriebseigenen Laden.

Mittels Stechuhr, strikter Arbeitsabläufe und Kontrolle wurde im Taylorismus disziplinierend auf die Arbeitnehmer eingewirkt. Heute übernehmen viele Arbeitnehmer diese Aufgabe selbst. Sie prüfen die Arbeitsinhalte, planen Arbeitszeit, definieren den Arbeitsort und entscheiden über projektbasierte Kooperationen. In Zielvereinbarungen werden lediglich die Leistungen definiert, die es zu erbringen gilt. Wie sie erbracht werden, ist jedem selbst überlassen. Die Selbstverantwortung wird zum Credo und die Selbstausbeutung zur neuen Arbeitsmoral.

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