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ORF/JOSEPH SCHIMMER

Die grauen Jahre

Österreichische Literatur nach 1945 - neu betrachtet

Nach ihrem Plädoyer für eine Kanonrevision der "Österreichischen Literatur zwischen den Kriegen" und der Neubewertung des Übergangs zwischen "Ringstraßenzeit und Wiener Moderne" unterzieht die Literaturwissenschaftlerin Evelyne Polt-Heinzl in ihrem aktuellem Buch "Die grauen Jahre" die österreichische Literaturgeschichte nach 1945 einer neuerlichen Lektüre, hinterfragt Kanonisiertes und holt Aus-dem-Blick-Geratenes ins historische Gedächtnis zurück.

Dass die Österreichische Literatur von 1945 bis in die Mitte der sechziger Jahre eine eher bleierne Zeit abbildete und wenig von Aufbruch und Optimismus zu vermelden hatte, liegt zum einen daran, dass ein großer Teil der Schriftstellerinnen und Schriftsteller dieser Zeit ihre Wurzeln im Ständestaat hatten oder mehr oder minder Profiteure des NS-Systems waren. Für die war der Neuanfang mit einer Verlustrechnung verbunden und nicht zuletzt mit der Strategie des Schweigens und Aussitzens.

"Der alte Zeitgeist herrschte vor"

Die Frage von Schuld und Mitschuld wurde, wie in der Politik, auf die lange Bank geschoben, in der Hoffnung, sie möge in der Hitze des Kalten Krieges verdampfen. Die junge Autorengeneration, die ab den fünfziger Jahren publizierte, lebte in einer seltsamen Atmosphäre der Überhöhung einer lange zurückliegenden Vergangenheit und der Skepsis allem Neuen gegenüber.

Mit der Thematisierung der jüngsten Vergangenheit schrieb man sich ins Abseits, wie etwa Hans Lebert 1960 mit seinem Roman "Die Wolfshaut" und selbst noch Gerhard Fritsch 1967 mit dem Roman "Fasching". Beide Autoren erlangten erst viele Jahre später Anerkennung.

"Der offizielle Literaturbetrieb hatte kein Interesse an Texten, die sich mit der NS-Vergangenheit, mit den Fragen Exil und Verfolgung auseinandergesetzt haben." Eveline Polt-Heinzl

Inszenierung und Wirklichkeit

Die Nachkriegsavantgarde, gemeinhin als Wiener Gruppe zusammengefasst, war damals ein Randphänomen, auch wenn sie im literarischen Kanon seit den siebziger Jahren die Nachkriegsliteratur zu dominieren scheint. Auch Artmann, Achleitner, Rühm, Bayer oder Jandl knüpften lieber beim Wienerlied an, beim Dialektgedicht, bei Mentalitätsauffälligkeiten wie Todessehnsucht, Neid, Grant oder beim Surrealismus.

"Mit einem Regelkorsett zugedeckt"

Eveline Polt-Heinzl: "Im Rückblick verwunderlich ist eigentlich dieser große Widerstand, auf den sie bei der alten oder älteren, konservativeren Generation gestoßen sind. Denn an dem zentralen Tabu der Zeit haben ja gerade die Autoren der Wiener Gruppe kaum gekratzt. Das zentrale Tabu war die NS-Zeit. Die Wiener Gruppe hat formale Strukturen angekratzt und angepatzt, und das war natürlich schon auch ein Thema in einer Zeit, die sich sehr mühsam bemüht hat, diese Brüche und Schründe zuzudecken mit einem Regelkorsett, sprachlich sowohl wie in einem Verhaltenskodex. Und diese jungen Autoren der später so genannten Wiener Gruppe haben an diesen Vereinbarungen gekratzt oder diese verletzt."

Service

Evelyne Polt-Heinzl, "Die grauen Jahre: Literatur nach 1945 - Mythen, Legenden, Lügen", Sonderzahl Verlag

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