Sonnenschirm am Fluss Po

APA/AFP/MARCO BERTORELLO

Radiogeschichten

Literarische Reportagen

Die "Radiogeschichten" bringen in ihrer Sommerserie einige Glanzstücke des Genres.

Was ist der Unterschied zwischen einer Reportage und einer Literarischen Reportage? Für das Zweite gilt, sie ist ein Hybrid zwischen Journalismus und Literatur. Wenn man qualitativ argumentiert, muss man sich aber die Frage stellen, ob dies nicht auf jede gut geschriebene Reportage zutrifft. Ist sie nicht immer ein mit künstlerischen Mitteln geschaffener Tatsachenbericht? Muss sie nicht immer den Anspruch von Objektivität mit subjektiver Wahrnehmung und Gestaltung verbinden?

Qualitativ argumentiert, wird eine Reportage wohl dann literarisch, wenn sie durch den Wert der Form über die Tagesaktualität hinaus Bestand hat. Einige ihrer Kennzeichen sind jedenfalls ein Erzähler, der als Zeuge des Geschehens den Text dominiert, Details, die nicht immer repräsentativ sein müssen, aber über das Geschehen hinausweisen und das Durchbrechen bzw. Variieren des Grundmusters "Aufmacher - Berichtkern - Schlusspointe".

"Eine Form anständigen Verhaltens" Martha Gellhorn

"Seriöser, sorgfältiger, ehrlicher Journalismus ist unverzichtbar, nicht weil er etwa ein Leitfeuer wäre, sondern weil er eine Form anständigen Verhaltens ist …" Martha Gellhorn (aus dem Vorwort zu "Das Gesicht des Krieges. Reportagen 1937-1987")

Heine, Kisch, Wallraff

Im deutschsprachigen Raum gilt manchem der Reisebericht als Vorläufer der Literarischen Reportage (Heinrich Heine), andere sehen in dem einen oder anderen Beispiel von Novellen-Dichtung schon ihre Frühform. Als eigene Gattung etabliert sich die Literarische Reportage mit der Entwicklung der Massenpresse Ende des 19. Jahrhunderts.

Im deutschsprachigen Raum erreicht sie in der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre einen qualitativen und quantitativen Höhepunkt (Egon Erwin Kisch) - und dann erneut in den späten 1960er Jahren (Günter Wallraff). Sowohl die von der Sowjetunion ausgehende Realismus-Debatte als auch die Theorie des Radikalen Konstruktivismus zwingen die (Literarische) Reportage bis heute zur Reflexion ihrer Grundlagen.

Paolo Rumiz, Blaise Cendrars oder Gay Talese

In unserer Sommerserie wenden wir den Blick auf die fremdsprachige Welt der Literarischen Reportage, beginnend - wie das Genre selbst - mit einem Reisetext: Paolo Rumiz´ (geb. 1947 in Triest) berühmter Fahrt auf dem Po. Eine Schiffsfahrt steht auch im Mittelpunkt der zweiten Sendung, die einen Text des Schweizer Abenteurers Blaise Cendrars (1887-1961) vorstellt. Dem Motiv der Reise bleibt auch die dritte Sendung treu, in der ein Ausschnitt aus Bruce Chatwins (1940-1989) Klassiker "In Patagonien" zu hören sein wird.

In eine harte Arbeitswelt führt George Orwells (1903-1950) Bericht aus einer Kohlemine des Jahres 1936 in der vierten Sendung. Die vorletzte Ausgabe der "Radiogeschichten"-Sommerserie gehört der amerikanischen Kriegsberichterstatterin Martha Gellhorn (1908-1998) und ihrer Propaganda-Analyse des Vietnamkriegs. Die Reihe schließt am 20. August mit der abenteuerlichen Geschichte des George Spahn, jenem blinden, alten Mann, der auf seiner Ranch eine Gruppe Hippies beherbergte, deren Anführer Charles Manson hieß. Verfasst von "New-Journalism"-Legende Gay Talese (geb. 1932, Ocean City, New Jersey).

Informationen meisterhaft aufbereitet

"… wie meisterhaft er Informationen für den Leser aufbereitet, einem exakt umrissenen Figurenensemble Leben einhaucht, durch die geschickte Verknüpfung von Gedanken und Anekdoten seine Geschichte ausspinnt und damit einen filmischen Gesamteindruck kreiert, der dem Leser unvergesslich bleibt." Lee Gutkind (Autor, Herausgeber und "the Godfather behind creative nonfiction") über Gay Talese (aus dem Vorwort zu "High Notes" von Gay Talese)

Dies kann natürlich nur eine winzige, keineswegs repräsentative Auswahl sein. Im 20. Jahrhundert war schließlich ein großer Teil der Schriftsteller und Schriftstellerinnen auch journalistisch tätig. Ausständig bleiben zudem viele Entwicklungen - vom beginnenden gesellschaftlichen Diskurs in China durch seine Reportageliteratur in den 1980er Jahren bis zu den grandiosen postkolonialen "Crónicas" Lateinamerikas. Genug Stoff also für eine Fortsetzung der Serie …

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