Der fotografische Blick des Julian Schutting

13. August 2018, 02:00

Was sehen Sie, wenn sie im Winter im Wiener Volksgarten spazieren gehen und die Reihen von mannshohen Rosenstöcken passieren, die zum Schutz gegen die Kälte in braune Säcke eingewickelt werden? Manche sehen über Rosenstöcke gestülpte Säcke, andere, wie Julian Schutting, sehen Gestalten, zum Beispiel Pilger oder Aussätzige, die - in Geschichte gebettet - Geschichten lostreten.

In seinem 2017 anlässlich seines 80. Geburtstages erschienen Text-Foto-Band "Betrachtungen" kann man derlei subtile, fantasievolle Assoziationsketten verfolgen und zugleich den Fotografen Schutting entdecken. Der Lyriker und Schriftsteller, 1937 in Amstetten geboren, studierte mit 16 Jahren Fotografie an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien. Es war der erste Kontakt mit der Kunst und der Beginn seiner literarischen Karriere, denn das Schreiben war und ist unmittelbare Konsequenz seines fotografischen Blicks. "Während meiner fotografischen Ausbildung habe ich sehen gelernt", sagte Schutting. Das Medium Fotografie habe ihm "geholfen, Wahrnehmungen zu speichern und Eindrücke richtig zu beleuchten".

Heute gilt Julian Schutting als einer der wichtigsten Vertreter der österreichischen Avantgarde. Sowohl im Schreiben als auch im Fotografieren wird er von einmaligen, außergewöhnlichen Momenten inspiriert, die er festhält. Auf seinen ausgedehnten Spaziergängen spürt er mit sensiblem Blick Orte auf, an denen andere achtlos vorübergehen. Kleine Beobachtungen rücken durch den fotografischen Ausschnitt, die Perspektive, die Nähe oder Distanz in den Mittelpunkt. Viele dieser "Arbeitsfotos" waren Ausgangspunkt für Texte wie "Stadtspaziergang" oder "Am Wienfluss", wo zum Beispiel die vier weißen Skulpturen ("Lemurenköpfe") von Franz West seit 2001 ein verlässlich irritierender Blickfang sind.

Service

Julian Schutting, "Betrachtungen - Texte und Photographien", Literaturedition Niederösterreich, 2018

Gestaltung

• Nicole Dietrich

Übersicht

• Lesen mit Ö1