Zerbombtes Haus in Sarajevo

AFP/GEORGES GOBET

Fünf Geschichten

"Ein Haus für die Müden" von Dzevad Karahasan

Das Scheitern des Vielvölkerstaates Jugoslawien hat der große bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan in Sarajewo hautnah erlebt. Vor 25 Jahren ist er aus der umkämpften Stadt geflohen. Seither hat er in einer ganzen Reihe von Romanen und Essays dem einst viel gerühmten "Jerusalem des Balkans" ein Denkmal gesetzt. Heute lebt er in Sarajewo und Graz.

Drei Jahre nach seinem Opus Magnum "Der Trost des Nachthimmels" über Blüte und Zerfall eines islamischen Reiches kommt heute ein neues Buch von Dzevad Karahasan in den Buchhandel: fünf Geschichten unter dem Titel "Ein Haus für die Müden".

Morgenjournal | 14 01 2019

Kristina Pfoser

Ein Jahrhundert bosnischer Geschichte

Warum hat der junge Briefträger aus Sarajewo, der anno 1914 in den ersten Kriegstagen gefallen ist, die Post nicht ausgetragen, sondern in einem Taubenschlag versteckt? Warum reist Tahir 93 Jahre später von Australien zurück nach Duvno, in das Dorf seiner Kindheit, um seinen Eltern eine Scheinbeerdigung zuteilwerden zu lassen?

Wenn Dzevad Karahasan den Schicksalen und Beweggründen seiner Figuren nachspürt, durchmisst er ein ganzes Jahrhundert bosnischer Geschichte. "Das ganze Buch ist ein Versuch, Menschen als Wesen der Zeit zu verstehen und anzusehen", sagt Karahasan, "und die Politik, die große Welt mischt sich immer in das Private, in das innere Leben ein."

Eine barocke Zeit

Geschichte und Gegenwart, Erinnerung und eine Vision der Zukunft werden hier kunstvoll verwoben mit philosophischen Einschüben, poetischen Betrachtungen und Reflexionen, "ein Spiel mit der Zeit" nennt das Dzevad Karahasan. Aber auch wenn er von der Vergangenheit erzählt, zielt er ins Heute.

"Unsere Zeit ähnelt in vielerlei Hinsicht sehr der Zeit des Barocks", meint Karahasan. "Daher die Auflösungserscheinungen in der Gesellschaft, daher auch die starke Präsenz des Repräsentierens anstelle des Seins. Daher auch die Krankheiten, an denen wir leiden." Diese Krankheiten macht Dzevad Karahasan mit einer Mängelliste dingfest. Und er zählt auf, was uns fehlt: "Zuversicht, Vertrauen in das Sein, die Fähigkeit, Utopien zu entwickeln und geistige Ziele zu setzen, Naivität, Freude. Wir begreifen gar nicht, wie viel Schönheit es auch im Alter geben kann."

Die Schönheit des Alters

Dzevad Karahasan verweist da auf seine Figuren im "Haus für die Müden", die diese Schönheit des Alters leben, und zwar Reife, eine Freiheit von Leidenschaften und Müdigkeit. Das Gefühl der Müdigkeit sei ihm selbst vertraut, sagt der Autor. Seit Karahasan 1993 aus dem umkämpften Sarajewo geflohen ist, Freunde, Verwandte und seine Bibliothek verloren hat, schreibt er an dem, was er das "Nachbild Sarajewos" nennt.

"Im Bosnienkrieg wurde eine Welt zerstört", sagt Dzevad Karahasan, "die Welt, die ich kannte und liebte und die mir eine gewisse Sicherheit geben konnte. Jetzt habe ich keine Möglichkeit, meine Tage und Jahre durch schöne und mir wichtige Rituale zu gestalten, meiner Zeit eine Form zu geben." Und er fügt hinzu: Er sei vor allem damit beschäftigt, die Welt von heute zu verstehen. Dabei hilft er auch seinen Leserinnen und Lesern - mit intellektueller Neugier, erzählerischer Kraft und Weisheit.

Service

Dzevad Karahasan, "Ein Haus für die Müden - Fünf Geschichten", aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber, Suhrkamp

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