Ein Mann geht durch Mali

ELISA ODDONE

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Der Tod des Soumayla Sacko

In Mali war Soumayla Sacko Bauer. 2015 musste er sein Land verlassen, weil der Klimawandel seine Landwirtschaft ruiniert hatte. Er ließ seine Lebensgefährtin und seine damals zweijährige Tochter zurück und kam über die Wüste und das Mittelmeer nach Italien. In Kalabrien arbeitete er für zwei bis drei Euro pro Stunde als Erntehelfer.

Vier Jahre lang lebte er in der sogenannten “Baraccopoli” von Rosarno - einer Zelt- und Barackensiedlung, in welcher während der Erntezeit der Zitrusfrüchte bis zu 4000 Menschen wohnten, größtenteils afrikanische Männer.

Im März 2019 wurde die Baraccopoli auf Anweisung des damaligen italienischen Innenministers, Matteo Salvini, geschliffen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie nicht der einzige, aber der größte Slum Italiens. Zu etwa 80 Prozent wurde sie von Einwanderern mit einem regulären Aufenthaltstitel (dem “permesso di soggiorno”) bewohnt, von denen manche seit über zehn Jahren in Italien leben. Sie war übrigens keine illegal gewachsene Struktur. Vor neun Jahren wurde sie mit Zelten des italienischen Katastrophenschutzes eingerichtet, der dem Innenministerium angehört. Doch jene, die die Zeltstadt bewohnten, waren längst keine auf Akuthilfe angewiesenen Flüchtlinge mehr, sondern tausende Saisonarbeiter, die ein fester Bestandteil der italienischen Agroökonomie sind.

Ein geheimes Giftmülllager

Neben seiner Tätigkeit als Erntearbeiter war Soumayla Sacko auch Gewerkschafter der Unione sindacale di base, der USB, einer großen italienischen Gewerkschaft, die sich auch für die Rechte dieser Saisonarbeiter einsetzt. In Versammlungen sagte er oft: “Freunde, jeder von uns ist als Individuum in diese Situation geraten, aber herauskommen werden wir nur als Kollektiv.” Seine Kollegen beschreiben ihn als einen beeindruckenden und stets hilfsbereiten jungen Mann.

Am 2. Juni 2018 ging Soumayla Sacko mit seinen Freunden Drame Madiheri und Fofona Madoufane, die ebenfalls aus Mali eingewandert waren, in eine stillgelegte Fabrik in der Nähe von San Calogero. Sie brachen zu Fuß aus der Baraccopoli auf, um drei Uhr nachmittags. Denn Drame und Fofona wollten sich eine Baracke bauen und benötigten Baumaterial. Weil in der Baraccopoli immer wieder Brände ausgebrochen waren, hatten die afrikanischen Einwanderer begonnen, nach feuerfesten Baumaterialien zu suchen. Und dieses gab es in der alten Fabrik von San Calogero: Wellbleche, die seit zehn Jahren vor sich hin rosteten.

Was die drei jungen Männer aus Mali bei ihrem Aufbruch nicht wussten, war, dass die Fabrik - von den Leuten in der Umgebung “La Tranquilla” genannt - 2008 konfisziert und stillgelegt wurde, weil dort 135.000 Tonnen Giftmüll illegal entsorgt worden waren. Und dass jene, die dafür verantwortlich waren, es nicht gerne sahen, wenn jemand das Gelände betrat. Etwa eine Stunde lang sägten sie Wellbleche ab und stapelten sie vor dem alten Fabrikstor.

Kurz bevor sie sich auf den Rückweg machen wollten, fuhr ein weißer Fiat Panda vor und ohne Vorwarnung begann ein Mann mit einem Jagdgewehr auf sie zu schießen. Er tötete den 29-jährigen Soumayla Sacko durch einen Kopfschuss. Seine beiden Freunde kamen mit Streifschüssen und einem Schock davon. Aufgrund ihrer Zeugenaussagen wurde der Landwirt Antonio Pontoriero verhaftet. Er ist der Neffe des ehemaligen Fabriksbesitzers, der sich offenbar dazu aufgerufen fühlte, das längst nicht mehr im Besitz seiner Familie befindliche Gelände zu verteidigen.

Organisierter Menschenhandel

Nach Soumayla Sackos Tod organisierte die USB eine große Demonstration in Reggio di Calabria und die Überstellung seines Sarges nach Mali. Soumayla Sackos Familie habe nur um eines gebeten: um Wahrheit und Gerechtigkeit, sagt sein Freund und Mitstreiter Aboubakar Soumahoro in einer Rede auf dem Prachtboulevard von Reggio di Calabria. Soumahoro ist der Präsident der Unione sindacale di base. Der 39-jährige Soziologe ist selbst aus Côte d´Ivoire eingewandert und hat sich in Süditalien als Erntearbeiter durchgeschlagen, bevor er mithilfe der USB in Neapel studieren konnte.

Für die Versklavung und Ghettoisierung der italienischen Erntearbeiter gäbe es viele Ursachen, sagt Soumahoro. Einerseits ist da die organisierte Kriminalität. “Wo Geld zu verdienen ist, da ist die N´drangheta.” - sagt man in Kalabrien. Und die Agrarwirtschaft ist in Zeiten der Wirtschaftskrise ein verlässlicher Zweig. Seit Jahrzehnten existiert in Süditalien das “Caporalato” - ein illegales System der Arbeitsorganisation in der Landwirtschaft. Die der organisierten Kriminalität nahestehenden “Caporali” sind Mittelsmänner, die die Erntearbeiter frühmorgens auf dem Arbeitsstrich auswählen, anheuern und zu den Feldern und Plantagen bringen. Dafür lassen sie sich sowohl von den Arbeitgebern als auch von den Erntearbeitern selbst bezahlen. Da letztere keine legalen Arbeitsverträge haben, entgehen dem Staat enorme Summen an Steuern und Sozialabgaben - laut einer Rechnung der italienischen Gewerkschaft FLAI-CGIL sind es jährlich rund 3,5 Milliarden Euro, die in dieser Parallelökonomie verschwinden.

Das Hauptproblem, meint Soumahoro, liege jedoch bei der GDO - der “Grande Distribuzione Organizzata”. Diese ist die italienische Dachorganisation des Lebensmittelgroßhandels. 70 Prozent der Agrarprodukte werden über die GDO vertrieben. Und weil der organisierte Großhandel immer niedrigere Preise in den Regalen der Supermärkte diktiert, werden - so Soumahoro - viele kleine landwirtschaftliche Betriebe dazu gedrängt, ihre Erntearbeiter auszubeuten, um konkurrenzfähig zu bleiben.

"Zuerst die Italiener!"

Schließlich kommt noch die “normativa Bossi-Fini” dazu - ein Gesetz, das die Verlängerung des Aufenthaltsgenehmigung an das Vorhandensein eines Arbeitsvertrages knüpft. Weil sie befürchten müssen, ausgewiesen zu werden, sind die Erntearbeiter in einer extremen Abhängigkeit von ihren Arbeitgebern - und haben keine andere Wahl, als zum Beispiel Scheinverträgen zuzustimmen, durch welche sie viel weniger als den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Die “Bossi-Fini”, schreibt der italienische Journalist Antonello Mangano in seinem Buch “Gli africani salveranno Rosarno” (im Verlag Terrelibere), sei ein Gesetz, “das nicht darauf abziele, die Einwanderung einzudämmen, sondern darauf, die Einwanderer zu unterdrücken”.

Ob Soumayla Sacko posthum Wahrheit und Gerechtigkeit erfahren wird, ist noch offen. Der Prozess gegen seinen mutmaßlichen Mörder, Antonio Pontoriero, begann am 19. Februar 2019. Seine Freunde, Drame Madiheri und Fofona Madoufane, leben immer noch in Kalabrien, können jedoch nicht mehr in den Zitrusplantagen arbeiten, da Pontoriero und seine Familie sie wiederholt bedroht haben.

Ihre Geschichte ist eine traurige. Doch sie lässt immerhin eine Hoffnung zu - die Hoffnung, dass sich in Italien eine neue Linke bilden könnte. Aboubakar Soumahoro zitiert gerne Giuseppe di Vittorio - den Begründer des Gewerkschaftswesens in Italien. “Die Linke gibt es nicht”, sagte dieser schon in den 1930er Jahren. “Sie muss stets neu konstituiert werden - von den Orten der sozialen Widersprüche aus. Man muss an den Peripherien beginnen, in den ländlichen Räumen, an jenen verlorenen Orten, die nie in Scheinwerferlicht geraten, bis ein Arbeiter und Gewerkschafter erschossen wird. Wo soll die Linke sein, wenn nicht an diesen Orten?”

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