Sibylle Berg

ORF/MIRELA JASIC

Roman "GRM"

Sibylle Berg: "Es ist keine Dystopie!"

Großbritannien nach dem Brexit: Der gläserne Mensch ist Wirklichkeit, die Regierung kontrolliert ihre Bürger mit Hilfe implantierter Chips, die Arbeit wurde in Billiglohnländer ausgelagert, die Perspektivenlosigkeit ist groß. In ihrem neuen Roman "GRM - Brainfuck" entwirft Sibylle Berg ein düsteres Zukunftsszenario. Gestern gastierte sie im Wiener WUK.

Morgenjournal | 16 04 2019

Christine Scheucher

Wenn Sibylle Berg auf Lesetour geht, so darf man dies wörtlich nehmen. Denn eine Lesung von Sibylle Berg ist ein popkulturelles Ereignis. Bekannt wurde die Wahlschweizerin als scharfzüngige Zeitgeistdiagnostikerin, die die Aporien der Lifestylegesellschaft ausleuchtet. Das bildungsbürgerliche Format der Lesung will also aufgepeppt werden. Seit vielen Jahren holt sich Berg musikalische Verstärkung auf die Bühne. Bei keinem ihrer Texte liegt dies näher als bei dem aktuellen.

"GRM" heißt Sibylle Bergs neuer Roman und Grime nennt sich auch eine Musikrichtung, die in den Nullerjahren in Großbritannien entstanden ist. "Mein neuer Roman spielt in Großbritannien, das modellhaft steht für die neoliberale Beschleunigung unserer Gesellschaft. Während meiner Recherchereise ist mir aufgefallen, dass die meisten Jugendlichen völlig verrückt nach Grime sind. Grime ist eine Neuerfindung des Hip-Hops aus Großbritannien", erklärt die Autorin.

Die Lesung als popkulturelles Ereignis

Auf YouTube hat der erst 14-jährige T. Roadz bereits einige Hits gelandet, jetzt liefert er das musikalische Rahmenprogramm einer szenischen Lesung, die jenen eine Stimme geben will, die als Ausschuss der Gesellschaft ein Dasein zwischen Alkoholismus und Arbeitslosigkeit fristen.

Roter Umschlag, weißer Schriftzug "Sibylle Berg GRM Brainfuck"

KI&WI

Der neue Roman von Sibylle Bergs ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen

Im strukturschwachen Norden Englands, einer Hochburg der Brexiteers, beginnt der Roman: Großbritannien hat die Europäische Union längst verlassen, IT-Riesen und Nachrichtendienste haben im Schulterschluss eine digitale Diktatur errichtet, die den einzelnen durchleuchtet und Bürgerrechte auf Konsumentscheidungen reduziert. Der Individualismus, diese heilige Kuh eines neoliberalen Menschenbildes, entpuppt sich als Chimäre.

Schnoddrig, treffsicher, plakativ

Im Mittelpunkt von "GRM" stehen vier Kinder, die den Aufstand proben. Sie vergraben ihre digitalen Endgeräte, die längst zum neuen Opium für das Volk geworden sind und tauchen im Großstadtmoloch London unter. Ein Szenario, das die Literaturkritik an Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" erinnert hat. "GRM", betont Sibylle Berg, sei jedoch keine Dystopie. "Wir werden längst überwacht. Unsere Daten werden täglich ausgelesen. Mein Roman spricht nicht von einer drohenden Zukunft, er zeichnet ein Bild der Gegenwart."

Schnoddrig, treffsicher und plakativ. Für ihren unverwechselbaren Ton wird Sibylle Berg von ihrer Fangemeinde geliebt. Auf Twitter begeistert Berg über 80.000 Follower. Ihre Romane hingegen gleichen häufig holzschnittartigen Thesenromanen, die nicht unbedingt mit meisterhaft gezeichneten Figuren, oder leisen Zwischentöne überzeugen. In "GRM" wird viel behauptet und wenig erzählt. Beim Lesen führt das nach 634 Seiten zu Erschöpfungserscheinungen. Weit kurzweiliger die Bühnenshow, die Sibylle Berg mit ihrer Crew in Wien abgeliefert hat.

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