Lagrime di San Pietro 2019: Grant Gershon (Dirigent), Peter Sellars (Regie), Los Angeles Master Chorale

SF/MARCO BORRELLI

Tränenreicher Festspiel-Auftakt

Rückblick auf die Ouverture Spirtuelle

"Lacrimae", Tränen, lautete heuer der Titel der Konzertreihe "Ouverture Spirituelle", die schon traditionell die Salzburger Festspiele einläutet. Eine Woche lang war man musikalischen Trauermotiven von der Renaissance bis zur Gegenwart auf der Spur - eine Rückschau.

Kulturjournal | 29 07 2019

Sebastian Fleischer

Es sind bittere Tränen der Reue, die der Apostel Petrus vergießt, nachdem er Jesus nach dessen Gefangennahme drei Mal verleugnet hat. Der Blick seines Herrn, der in diesem Moment den seinen kreuzte, wird Petrus bis ins hohe Alter verfolgen und nahe an den Selbstmord treiben. So schildert es der Renaissance-Dichter Luigi Tansillo in einem Text, den der Komponist Orlando di Lasso zu seinem großen Chorwerk "Lagrime di San Pietro" vertont hat.

Lagrime di San Pietro 2019: Grant Gershon (Dirigent), Peter Sellars (Regie), Los Angeles Master Chorale

Lagrime di San Pietro 2019: Grant Gershon (Dirigent), Peter Sellars (Regie), Los Angeles Master Chorale

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Mit "Lagrime di San Pietro" wurde die Ouverture Spirituelle vor gut einer Woche in der Kollegienkirche eingeläutet. Das Besondere dabei: Peter Sellars, "Idomeneo"-Regisseur und Eröffnungs-Redner der Salzburger Festspiele, hatte auch bei diesem ersten Eröffnungsstück seine Hände im Spiel. Mit dem Los Angeles Master Chorale unter der Leitung von Grant Gershon hat er eine - man könnte sagen: halbszenische Fassung des Chorwerks erarbeitet, in der die Chormitglieder das Gesungene mit ihren Körpern darstellen. Hände wurden da beschwörend gen Himmel gestreckt, man sank kollektiv zu Boden und umarmte einander. Für den Regisseur ein naheliegendes Experiment: Orlando di Lasso habe sich stark von den großen Malern seiner Zeit beeinflussen lassen - das gegenseitige Ringen von Körper und Seele war in der Renaissance ein omnipräsentes Thema.

"Orlando di Lasso schuf den Klang zu diesen ineinander verschränkten Gliedern", so Sellars. "Den Klang von Menschen, die sich nach etwas Unerreichbarem ausstrecken. Die harmonische Sprache, die nichts anderes ausdrückt als das kämpfende Herz."

Lagrime di San Pietro 2019: Grant Gershon (Dirigent), Los Angeles Master Chorale

SF/MARCO BORRELLI

Werke für die Nachwelt

Orlando di Lasso, der zwei Wochen nach der Fertigstellung seines Opus Magnum starb, wusste, dass "Lagrime di San Pietro" sein letztes Werk sein würde - und er habe es nicht für seine Zeitgenossen, sondern für kommende Generationen geschrieben, glaubt Peter Sellars - die Verantwortung der Menschheit für ihr eigenes Schicksal steht für ihn auch hier im Mittelpunkt.

"Dieses Werk ist eine Herausforderung für die nachfolgenden Generationen. Dieser Mann war in den letzten Wochen seines Lebens und wusste, dass man im Leben etwas bewirken musste. Denn niemand von uns kann es sich leisten, dort aufzuhören, wo er begonnen hat", so Sellars.

Eine Art Vermächtnis brachte auch der Pianist Igor Levit zu Gehör - das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart in einer Klaviertranskription von Franz Liszt. "Es gibt verschiedene Arten von Transkriptionen", sagt Levit. "Da gibt es die ‚Salon-Transkriptionen‘, die der Zur-Schau-Stellung dienten. Dann gibt es die weltumspannenden Transkriptionen, in denen ganz andere Fragen verhandelt werden - und ja, da trägt das Individuum das Klagelied aller auf seinen Schultern."

Im Salzburger Mozarteum spielte Igor Levit das Mozart-Lacrimosa etwa zusammen mit Liszts Variationen über ein Thema von Bach, "Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen". "Das chromatische Klagemotiv zieht sich durch all diese Stücke durch", so Levit. "Das ist ja auch Teil des B-A-C-H."

Die Stimmen zum Tode Verurteilter

Die chromatisch oder in Ganztonschritten absteigende Tonfolge - sie zieht sich als Trauermotiv quer durch die Epochen - und damit auch durch die diesjährige Ouverture Spirituelle. Vier absteigende Töne waren geradezu das Markenzeichen des englischen Komponisten John Dowland, bekannt für seine Ende des 16. Jahrhunderts veröffentlichten Melancholie-Lieder, mit denen er dem damaligen Zeitgeist Rechnung trug. Seinen berühmten Zyklus "Lachrimae, or Seven Teares" für Laute und Gamben-Consort brachten Jordi Savall und sein Ensemble Hesperion XXI zu Gehör.

Einige Tage später präsentierte Savall, ein treuer Wegbegleiter der Ouverture Spirituelle, zudem berührende Vertonungen des Stabat Mater von Marc-Antoine Charpentier bis Arvo Pärt. Apropos 20. Jahrhundert: Zwölf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vertonte Luigi Nono die Abschiedsbriefe zum Tode verurteilter europäischer Widerstandskämpfer.

Peter Rundel, Jens Harzer

SF/MARCO BORRELLI

Peter Rundel, Jens Harzer

Die Aufführung durch das SWR Vokalensemble und Symphonieorchester letzten Mittwoch war beeindruckend und zugleich beklemmend - auch weil der Schauspieler Jens Harzer die Briefe, die dem seriellen Werk zugrunde lagen, zuvor verlesen hat.

Eigentlich wäre Bruno Ganz als Sprecher vorgesehen gewesen - nach seinem Tod übernahm Jens Harzer, sein Nachfolger als Träger des Iffland-Rings. Die Grenzen zwischen persönlichem und Weltschmerz, zwischen religiös motivierter und profaner Trauermusik verschwimmen - auch das wurde bei der Ouverture Spirituelle deutlich. Beim Komponisten Pascal Dusapin, dem die Salzburger Festspiele heuer einen Schwerpunkt widmen, fließt beides zusammen. Im Orchesterstück Granum sinapis komponierte er, was ihm erst später bewusst wurde, ein Requiem auf seine eigene Mutter.

Der Reiz des Verbotenen

Während Granum Sinapis Texte des mittelalterlichen christlichen Denkers Meister Eckhart vertont, sind es in "Umbrae Mortis" und "Dona Eis" Texte aus dem römisch-katholischen Totenoffizium. Das Österreichische Ensemble für Neue Musik führte die Werke letzten Donnerstag als Zyklus auf. Christliche Texte hätten ihn immer schon stark interessiert, sagt Pascal Dusapin - obwohl oder gerade weil er keinerlei religiöse Vorbildung habe.

"Mein Vater verbot meinem Bruder und mir jegliche Form der religiösen Bildung", erzählt der Komponist. "Vielleicht war es gerade dieses Unbekannte, das mich so angezogen hat."

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass am selben Abend ein Kammermusikwerk der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina zu hören war, der religiöse Bildung einst von Staats wegen verboten war. Auch ein anderer Komponist, der unter der Sowjet-Diktatur zu leiden hatte, war bei dieser Ouverture Spirituelle mehrfach vertreten: Dmitri Schostakowitsch. Mit seiner siebenten Symphonie, der "Leningrader", vertonte er nichts weniger als den Zweiten Weltkrieg.

Teodor Currentzis führte sein SWR-Symphonieorchester am Freitag im Großen Festspielhaus mit gewohntem Perfektionismus durch das Mammutwerk, allerdings ohne dabei durchgehend fesseln zu können - dennoch erntete der Stardirigent Jubelstürme. Als begeisterungsfähig erwies sich das Publikum allerdings auch bei den stilleren Programmpunkten - und diese machen schließlich den Geist der Ouverture Spirituelle aus.

Gestaltung