"Das letzte rote Jahr" das Buch des Monats September

ORF/ISABELLE ORSINI-ROSENBERG

Oktober

Susanne Gregor, "Das letzte rote Jahr"

Susanne Gregors Roman ist das Ö1 Buch des Monats Oktober.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter - die vier Kapitel von Susanne Gregors neuen Roman stehen für die Schwerkraft von Zeit und Natur und suggerieren einen normalen Jahresablauf. Damit stehen sie in scharfem Kontrast zum Inhalt des Buches, denn im "letzten roten Jahr", dem Jahr 1989 in der Stadt Zilina im Nordosten der Slowakei, bleibt kein Stein auf dem anderen, sondern ändert sich alles.

Ex libris | 15 09 2019 | Rezension von Cornelius Hell

Die seit 1990 in Österreich lebende stammt aus diesem Zilina, und man merkt ihrem Erzählen an, wie genau sie dort alles kennt - nicht nur Straßen, Plätze und Gebäude, sondern auch die sozialen Strukturen. Dass der Roman nicht einfach autobiografisch zu lesen ist, signalisiert schon die Tatsache, dass Susanne Gregor 1989 acht Jahre alt war, die Ich-Erzählerin des Romans, das Mädchen Misa, ist jedoch 14. Ein interessantes Alter an der Kippe vom Kindsein zum Erwachsenwerden, und so wird denn Misas privates Leben ebenso schnell und grundlegend auf den Kopf gestellt wie das politische System. Dieses Ineinander verleiht dem Roman Drive und Spannung und macht seine Faszination aus.

Literatur ist Misas Widerstand

Misa ist Teil eines Mädchen-Trios, zu dem noch Rita und Slavka gehören, die im selben Plattenbau wohnen. Die drei sind anfangs unzertrennlich, doch die rasanten Veränderungen in ihrem Leben bringen sie zunehmend auseinander. Rita schottet sich zunächst immer mehr von ihrer Umgebung ab und wird eine überzeugte Pionierin und Kommunistin, sie verteidigt die Ideale des Sozialismus gegen dessen schlechte Realität. Slavka ist eine fanatische Gymnastin - bis sie sich bei einer Schulveranstaltung den Knöchel bricht und ihre Karriereträume zerplatzen. Misa hingegen ist eine passionierte Leserin, Literatur ist ihr Widerstand gegen die dümmlich-autoritären Eltern und liefert ihr Maßstäbe für das sich verändernde Leben; Christa Wolfs Roman "Der geteilte Himmel" hat es ihr besonders angetan, in diesem Liebes- und Zeitroman findet sie sich wieder.

Rita selbst erlebt ja verwirrt und dann zunehmend fasziniert den Einbruch der ersten Liebe in ihr Leben. Radek, der Mitschüler, der Tscheche aus Prag, holt sie immer öfter von der Schule ab und wird in allen Wirren zu ihrem engsten Vertrauten. Auch Rita verliebt sich, und zwar ausgerechnet in Mišas schwierigen Bruder Alan, was die Freundschaft der beiden Mädchen zeitweise ziemlich kompliziert macht. Gegen Jahresende sind Alan und Rita in Hamburg, die beiden sind aus den belastenden Familienverhältnissen und der ungewissen politischen Situation in der Tschechoslowakei einfach abgehauen. Slavka hat eine Affäre mit ihrem Geschichtelehrer, dem Genossen Baník, der seine Schüler fasziniert, weil er erstmals im Unterricht alle Fragen zulässt. Slavka ist diejenige, die alles hinter sich lassen kann und sich immer wieder neu erfindet. Der politische Umbruch befreit sie von dem fragilen Status einer Dissidententochter, sie hofft, zu ihrem geflohenen Vater nach Malmö zu ziehen.

1968 hat nicht stattgefunden

Misa selbst übersiedelt am Ende des Romans mit ihrer Familie nach Österreich - ihr Vater, der sich gut angepasst hatte und immer strikt gegen eine Flucht war, verkündet nun, er habe über Bekannte eine Arbeit in Österreich gefunden. Natürlich hat er niemanden in der Familie gefragt, er verkündet einfach: Der Umzug steht bevor. An diesem Vater zeigt sich vielleicht noch deutlicher als an den anderen Romanfiguren die dumpfe gesellschaftliche Rückständigkeit, die das abgeschottete Reservat des Kommunismus produziert hat.

Kinder und Jugendliche haben nichts zu sagen, vierzehnjährige Töchter werden geschlagen, wenn sie nicht "folgen" oder der Vater einfach in Wut gerät. Der Roman zeigt augenscheinlich, was man im ehemaligen Westen oft noch immer nicht begreift: Dass der Kommunismus nicht nur ein politisches System war, sondern auch die Generationenbeziehungen, das Lehrer-Schüler-Verhältnis und vor allem die Geschlechterbeziehungen zutiefst geprägt hat. Verkürzt gesagt und auf eine Formel gebracht: 1968 hat in den kommunistischen Staaten nicht stattgefunden.

Eine Erzählerin von großem Format


Diese detailreiche Geschichte des Politischen im Privaten zeichnet den Roman "Das letzte rote Jahr" aus. Die Perspektive einer Vierzehnjährigen ist dazu hervorragend geeignet - ihr erwachender Blick auf die Erwachsenenwelt, deren Teil sie zunehmend sein möchte, diagnostiziert den Alltag präzise und in vielen Details. Und die politischen Ereignisse des Jahres 1989 sind in Nachrichten und Gesprächen stets präsent, die Konfrontation von Westfernsehen und real existierendem Sozialismus erzeugt eine surreale Welt, die die Absurditäten beider Systeme aufleuchten lässt.

Susanne Gregor ist eine Erzählerin von großem Format, die nicht nur durch historische Kenntnisse und genaues Lokalkolorit besticht, sondern eine psychologisch bis in die letzten Nuancen stimmige Figurenkonstellation zu entwerfen vermag. Vor allem aber verfügt sie über eine Sprache, die noch den banalsten Alltagsszenen einen spezifischen Glanz verleiht. Lange Sätze ziehen sich durch sehr lange Absätze, aber nie wird das Lesen zur Mühe, und das liegt nicht nur an der spannenden Handlung, sondern am Rhythmus der Sprache, die nie in bereitstehende Klischeetöpfe fällt.

Fehlt auf Buchpreislisten

Die wunderbare Komposition des Ganzen enthüllt vor allem der kurze Vorspann, den man nach der Lektüre des gesamten Buches noch einmal lesen muss. Misa sieht Rita im Fernsehen und trifft sie dann in Wien. Und trotz aller Veränderungen ist da wieder die alte spezifische Vertrautheit, die die Erzählerin zurückkatapultiert in ihre Vergangenheit. Aus dieser Perspektive ist der Roman geschrieben.

Mit Susanne Gregor ist der österreichischen Literatur eine Erzählstimme zugewachsen, die aus ihrer Biografie einen spezifischen Stoff einbringt. Das ist deswegen so wichtig, weil die österreichischen Autorinnen und Autoren mit ganz wenigen Ausnahmen die mittelosteuropäischen Länder nie zu Schauplätzen ihrer Romane oder Erzählungen machen. Noch wichtiger ist jedoch, dass diese Autorin über eine Ökonomie des Erzählens und über eine Sprache verfügt, die jeden Stoff, den sie angreift, zu etwas Besonderem machen. Dass sich Suanne Gregors Roman "Das letzte rote Jahr" auf keiner der gerade verkündeten Buchpreislisten findet, lässt einen am Verstand diverser Jurys zweifeln.

Service

Susanne Gregor, "Das letzte rote Jahr", Roman, Frankfurter Verlagsanstalt
Susanne Gregor