Auge, Ausschnitt des Buchcovers

SCHÖFFLING & CO

Moldawische Autorin

Debüt von Tatiana Țîbuleac

Es ist eine ungewöhnliche Sommerreise, die Tatiana Țîbuleac in ihrem Debütroman "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte" beschreibt. Der Ich-Erzähler Aleksy, der wegen seiner ungezügelten Gewaltausbrüche in einem Erziehungsheim sitzt, soll seine Mutter nämlich nach Frankreich begleiten, wo die unheilbar an Krebs erkrankte Frau, ihre letzten Wochen erleben möchte.

Es ist purer Hass, der aus Aleksy spricht, als ihn seine Mutter zu Beginn des Sommers aus dem Erziehungsheim holt. Hass auf die Lehrer, Hass auf die Psychologin, vor allem aber Hass auf die Mutter.

Sie war klein und dick, dumm und hässlich. Die nutzloseste Mutter, die es je gab, ...

heißt es gleich in den ersten Zeilen des Buches.

Die beiden Protagonisten des Romans, Aleksy und seine Mutter sind polnische Migranten, die im Norden Londons leben. Warum diese Nationalität, warum dieser Schauplatz? Tatiana Țîbuleac: "Ich bin Moldawierin, lebe aber seit mittlerweile zehn Jahren in Paris, und wollte in meinem Debüt nicht nach Osteuropa zurückkehren, sondern eher davonlaufen vor meiner Identität."

"Eine unverwechselbaren Stimme", Wolfgang Popp

Der Häftling als Vorbild

Während Mutter und Sohn von London Richtung Süden aufbrechen, deckt Tatiana Țîbuleac nach und nach die Familiengeschichte ihres Ich-Erzählers Aleksy auf. In kurzen Erinnerungssplittern erfährt man da vom tragischen Unfalltod der Schwester, vom gewissenlosen Vater, der nicht nur mit einer neuen Freundin die Familie verlassen, sondern bei der Gelegenheit auch gleich die halbe Wohnung ausgeräumt hat, und von der nach dem Tod ihrer Tochter lieblos gewordenen Mutter.

"Wer soll so eine brutale und bizarre Geschichte überhaupt lesen?" Tatiana Țîbuleac

Centrul de Moda

Nebenan: Republik Moldau

Erkundungen in Europas Nachbarschaft im Ö1 Archiv

Bevor Tatiana Țîbuleac Schriftstellerin wurde, hatte sie in Moldawien als TV-Journalistin gearbeitet. Zuständig für Gesellschaftsthemen war sie damals viel unterwegs und besuchte psychiatrische Kliniken oder Haftanstalten. "Das Vorbild für meinen Ich-Erzähler", erzählt Tatiana Țîbuleac, "war ein Jugendlicher, den ich einmal in einem Gefängnis interviewt habe. Sein Optimismus und seine Lebensfreude haben mich damals beeindruckt. Gleichzeitig konnte er seine Wut, seine Aggressionen und Gewaltausbrüche nicht kontrollieren, als Folge seiner Familiengeschichte, in der er nie Liebe oder Fürsorge erfahren hat."

Reise zurück in die Welt

Aleksys hasserfüllter Furor, mit dem er seine Umgebung betrachtet, ist streckenweise schwer zu ertragen, entwickelt aber nichtsdestotrotz einen Sog beim Lesen. Beeindruckend ist aber, wie Aleksys Blick auf die Welt ganz langsam nachsichtigere Züge annimmt. Wie er angesichts der Eröffnung seiner Mutter, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein, nach und nach nicht nur Empathie, sondern auch eine neue Sprache entwickelt. Als Leser wird man da Zeuge, wie sich Aleksy vorsichtig an die Schönheiten der Welt herantastet und wie seine Sicht auf die Dinge dadurch langsam immer positiver wird.

Diesen Stimmungswandel beschreibt Țîbuleac ohne den sprachlichen Sog abreißen zu lassen, einen Sog, den sie, wie sie sagt, auch selbst beim Schreiben erlebt hat, denn nach nur zwei Monaten lag der Text plötzlich fertig vor ihr: "Es war verrückt, ich schrieb jeden Tag acht, neun Stunden, ohne Unterbrechung. Und erst als das Buch fertig war, fragte ich mich, wer so eine brutale und bizarre Geschichte überhaupt lesen soll."

Vom Journalismus zum Schreiben

Tatiana Țîbuleac wurde 1978 und damit noch mitten in der Sowjetzeit in der heutigen Hauptstadt Moldawiens in Chișinău geboren. Dort studierte sie später auch Journalismus. Erste Bekanntheit erlangte sie mit ihrer Kolumne "Wahre Geschichten" in der einflussreichsten rumänischsprachigen Tageszeitung Moldawiens "Flux". Später arbeitete sie beim Fernsehen als Reporterin und Nachrichtensprecherin.

"In mir herrscht eine Art babylonische Sprachverwirrung" Tatiana Țîbuleac

Buchumschlag

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"In Moldawien gibt es zahlreiche Ethnien", erzählt Tatiana Țîbuleac, "und ich stamme aus einer rumänischen Familie. Wegen der Sowjetherrschaft musste ich neben meiner Muttersprache Rumänisch aber auch Russisch lernen. Als ich vor zehn Jahren nach Paris zog, kam dann noch Französisch dazu und Englisch spreche ich, weil meine Ehemann Brite ist. In mir herrscht deshalb eine Art babylonische Sprachverwirrung, die aber zentral für mein Schreiben ist. Denn obwohl ich auf Rumänisch schreibe, habe ich alle anderen Sprachen mit im Gepäck und so finden etwa viele Leser meine Beschreibungen oft sehr slawisch."

Zurück zu den Wurzeln

Bereits 2018 hat Tatiana Țîbuleac ihren zweiten bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman "Der Glasgarten" veröffentlicht. Der gewann den Literaturpreis der Europäischen Union und stellte so etwas wie eine Rückkehr zu Țîbuleacs Wurzeln dar: "Ich wollte über all das schreiben, was ich in meinem ersten Roman vermieden hatte. Und so kehrte ich in meine Kindheit und Jugend in Chișinău zurück. Ich wurde ja immer wieder gefragt, ob ich jetzt Russin oder Rumänin sei und ich wollte mit diesem Roman eine Antwort auf diese Frage geben, die eben keine einfache Antwort ist, wenn man so aufwächst wie ich."

Viele Erinnerungen scheinen da noch Schlange zu stehen, und bei der unverwechselbaren Stimme, die Tatiana Țîbuleac in ihrem Roman "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte" an den Tag gelegt hat, darf man doppelt gespannt sein: Auf die Geschichten und auf die Art und Weise, auf die Țîbuleac sie erzählen wird.

Service

Tatiana Țîbuleac, "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte", Roman, aus dem Rumänischen von Ernest Wichner, Schöffling & Co.

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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