Aufklaffende Bücher

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Sarah Moss

"Geisterwand" - Die Wildnis der Gewalt

Ein archäologisches Experiment in einem nordenglischen Sumpfgebiet, magische eisenzeitliche Rituale und häusliche Gewalt. Es sind ganz unterschiedliche Themen, die die schottische Schriftstellerin Sarah Moss in ihrem Roman "Geisterwand" zusammenlaufen lässt. "Mit keinem anderen Buch vergleichbar", schwärmte das englische Feuilleton.

In einer nordenglischen Moorlandschaft haben ein Archäologieprofessor, seine drei Studenten und eine dreiköpfige Familie, ein nicht alltägliches Experiment gestartet. Ausgestattet nur mit den Mitteln, die den Menschen der Eisenzeit zur Verfügung standen, wollen sie zwei Wochen lang in der Wildnis leben.

Die Gesten der Geschichte

"Mich fasziniert dieser Ansatz", sagt Schriftstellerin Sarah Moss, "durch das Imitieren der Praktiken und Bewegungen der eisenzeitlichen Menschen, ein tieferes Verständnis von deren Leben zu gewinnen als allein durch die Betrachtung und Beschreibung der archäologischen Fundstücke."

Ihren Roman "Geisterwand" erzählt sie aus der Perspektive der Tochter, der siebzehnjährigen Silvie. Deren Vater ist eigentlich Busfahrer, findet aber in der vorrömischen Zeit seine Ideale verwirklicht.

Flucht in die Vergangenheit

"Schauplatz meines Romans sind die 90er-Jahre", so Sarah Moss, "als viele Bergwerke und Fabriken zusperren mussten. Plötzlich spielten Arbeit und Kraft der Männer, über die sie sich bisher definiert hatten, keine Rolle mehr. Der Vater flüchtete sich daraufhin in die Geschichte der britischen Stämme und stellt sie sich als eine Zeit vor, in der seine Männlichkeit noch etwas gegolten hat."

Moss verwendet keine Anführungszeichen, was ihre Silvie ausspricht, was sie laut denkt, und was sie ungesagt lässt, geht deshalb nahtlos ineinander über.

Ursprung der Gewalt

Was anfangs nur angedeutet, bald aber traurige Gewissheit wird: Silvie und ihre Mutter werden regelmäßig vom Vater geschlagen. Sarah Moss stellt den Mann aber nicht als Monster dar, sondern zeigt die Strukturen, die ihn zu dem gemacht haben, der er ist.

"Was er tut, ist abscheulich", so Sarah Moss, "er ist aber das Produkt eines bestimmten Umfelds, und das lässt ihn glauben, dass es keine Alternative gibt zu seinem Verhalten. Solche Menschen kommen ja nicht aus dem Nichts und werden von einem Umfeld getragen, das ihr Verhalten toleriert."

Er kann nicht anders, sagte sie später, das ist sein Naturell, und natürlich wird er stinkig, den ganzen Tag hinterm Steuer, ein Mann wie er, der draußen sein will, er ist dafür nicht gemacht, es ist eine Schande.

Voyeurismus verboten!

In einer Szene wird Silvie vom Vater mit dem Gürtel geschlagen. Eine Szene, die Sarah Moss auf besondere Weise schildert.

"Die Gewalt wird nicht aus der Sicht des Täters gezeigt", betont Sarah Moss. "Ich beschreibe auch nicht Silvies Gefühle, sondern nur ihre Gedanken. Das war mir wichtig, weil die Gewalt an Frauen in Romanen oft voyeuristisch und reißerisch dargestellt wird."

Das Schlängeln der Stimmen

Sarah Moss schafft in ihrem Roman "Geisterwand" Spannung, wo sie angemessen ist, und eine zerbrechliche Welt, wo Sensibilität gefragt ist. In der einfühlsamen Übersetzung von Nicole Seifert schnuppern dann Scheinwerfer über die Wege und schlängeln sich Stimmen durch die Äste der nordenglischen Wälder.

Service

Sarah Moss, Geisterwand, aus dem Englischen von Nicole Seifert, berlin verlag

Gestaltung

  • Wolfgang Popp