Abdulrazak Gurnah

APA/AFP/ADRIAN DENNIS

"Das verlorene Paradies"

Gurnah jetzt wieder auf Deutsch

Wie im Vorjahr wurde der Literaturnobelpreis 2021 an Abdulrazak Gurnah nicht in Stockholm, sondern in seiner Heimatstadt London überreicht, und wie im Vorjahr bei Louise Glück ist bzw. war das Werk des Literaturnobelpreisträgers in deutscher Sprache seit Jahren vergriffen.

Nun hat der Penguin Verlag Gurnahs frühen Roman „Das verlorene Paradies“ wiederaufgelegt. 1994 erschienen, bedeutete er den internationalen Durchbruch für den aus Tansania stammenden Literaten und Literaturprofessor, der seit 1968 in London lebt.

Buchcover

PENGUIN RANDOM HOUSE VERLAG

Spurensuche in historischen Gefielden

Ende der 1960er Jahre ging der damals 18-jährige Abdulrazak Gurnah als politischer Exilant nach London, 20 Jahre später kehrte er erstmals wieder in seine Heimat Tansania zurück. Unter dem Eindruck dieser Rückkehr entstand sein Erfolgsroman „Das verlorene Paradies“, der auf der Shortlist zum Booker Prize stand und für den Autor den internationalen Durchbruch bedeutete, erzählt der Professor für afrikanische Literatur und Gurnah-Experte Manfred Loimeier: „Er hat gewissermaßen mit dieser Reise sein Land wieder neu kennengelernt und wenig überraschend ist stilistisch, sprachlich und genre-mäßig ein historischer Roman daraus geworden.“

Der Roman handelt zur Zeit der Karawanen im multiethnischen Tansania Ende des 19. Jahrhunderts, kurz vor der Machtergreifung deutscher Kolonialisten. Als Entwicklungsroman erzählt er das Heranwachen des Protagonisten Yusuf, den die Eltern als 12-Jährigen an den reichen Händler Aziz verkauften, um ihre Schulden bei ihm zu tilgen. Yusuf arbeitet jahrelang für Aziz und begleitet ihn auf seinen gefährlichen Geschäftsreisen quer durchs Land.

Beißende Vorurteile und scharfe Klänge

Jede dieser Geschäftsreisen beginnt als festliche Prozession mit Blasmusikbegleitung, bei der die Hundertschaft an Trägern und Dienern in festgeschriebener Hierarchie durch die von Schaulustigen gesäumten Straßen stapfen und torkeln, schwankend unter der Last auf ihren Schultern.

Mit solch einer Karawane bewegt sich auch die Handlung wie ein Roadmovie in Zeitlupe durch fruchtbares und unwegsames Gelände, macht Halt bei Sultanen und Krämern, auf einsamen Hügeln und in Berghöhlen. Die Begegnung der unterschiedlichen Kulturen wird dabei nicht als heile Multi-Kulti-Welt, sondern als Konflikt zwischen Tradition und Erneuerung, als Aufeinandertreffen von Klischees und Vorurteilen geschildert. Dazu Manfred Loimeier: „Einerseits haben wir die tansanische Festlandkultur, dann die vom indischen Ozean geprägte Handelskultur, und dann die arabischen Einflüsse. Doch, nur weil sich diese Kulturen übereinanderlegen, heißt das nicht, dass eine davon verklärt wird. Ganz im Gegenteil, es wird auch hinterfragt.“

Unterwegs zeigt Gurnah immer wieder eindrucksvoll, wie viel Sehnsucht sich im Duft einer Speise, wieviel Gesellschaftspolitik in einer einfachen Teezeremonie beschreiben lässt. Und, wie stark allerorts die Sogwirkung von Geschichten ist.

Finaler Teufelskreis mit langem Anlauf

So plastisch, intensiv und eindringlich Gurnah es gelingt, Sinneseindrücke zu beschreiben, so distanziert und nüchtern wirkt der Tonfall insgesamt. Selbst dem jungen Protagonisten scheint Gurnah nicht zu nahe treten zu wollen. Für Manfred Loimeier ist das ein interessantes literarisches Spiel: „Der naive Blick des jungen Yusuf auf das Geschehen ist zugleich mein naiver Blick als Leser auf eine mir bisher fremde Kultur.“

Erst nach einem Anlauf von fast 300 Seiten stürzt Gurnah seinen Protagonisten in einen finalen, sehr emotionalen Teufelskreis aus Begehren und begehrt werden, der alle vorherrschenden Machtstrukturen und sozialen Rangordnungen noch einmal auf bittere Weise verdeutlicht. Der darauffolgende Verlust des Paradieses entlässt die Leserschaft mit vielen Fragen.

Wie praktisch, dass Gurnah ausgerechnet im jüngsten Roman „Afterlives“ von 2020 noch einmal auf diese Geschichte zurückkommt und sie weitererzählt. Die deutsche Übersetzung ist angeblich schon auf dem Weg.

Service

Abdulrazak Gurnah, "Das verlorene Paradies", Roman, aus dem Englischen von Inge Leipold, Penguin
Originaltitel: "Paradise"

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