Cover der Autobiographie des Giuliano di Sansevero.

ORF/ISABELLE ORSINI ROSENBERG

Oktober 2022

Andrea Giovene, "Giuliano di Sansevero"

"Ein junger Herr aus Neapel", Andrea Giovenes erster Band der fünfbändigen Romanreihe "Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero", ist das Ö1 Buch des Monats.

Als der italienische Schriftsteller und Journalist Andrea Giovene in den 1960er Jahren an der "Autobiographie des Giuliano di Sansevero" schrieb, war die Zeit der gesellschaftsprägenden Fürstenhäuser schon länger vorbei, in der Erinnerung waren sie allerdings noch präsenter als heute, wo die Paläste und Villen, sofern sie noch existieren, einzig für den Tourismus einen gewissen Wert haben.

Giovenes Projekt ist im Ansatz mit Giuseppe Tomasi di Lampedusas "Der Leopard" vergleichbar: mit den Mitteln der Literatur wird hier eine Gesellschaftsschicht aus der Erinnerung gehoben, um sie in ihrem Anachronismus, in ihrer Unbeweglichkeit, in ihrer Lebensunfähigkeit ebenso darzustellen wie die Unumgänglichkeit ihres Niedergangs.

Giovenes Alter Ego

Wie Tomasi di Lampedusa wusste auch Andrea Giovene genau, worüber er schrieb: über seinesgleichen nämlich, den Spross einer herzoglichen Familie aus Neapel, denn dieser Giuliano di Sansevero ist das Alter Ego seines Autors. Beiden lasten 900 Jahre Familiengeschichte auf den Schultern, beide unternehmen den Versuch, sich in Tradition und Konvention einzufügen, beide streifen letztendlich die Last der Jahrhunderte von sich ab, ohne je ganz davon frei zu sein. Die politischen und ökonomischen Entwicklungen seit dem Ersten Weltkrieg machen es ihnen leichter.

Der erste Band der "Autobiographie des Giuliano di Sansevero" trägt den Titel "Ein junger Herr aus Neapel" und handelt von den ersten zwanzig Lebensjahren des Adelssprosses. Im herrschaftlichen Palazzo herrscht eine bizarre Mischung aus strenger Etikette und kompletter Vernachlässigung. Giulianos Vater, traditions- und standesbewusst wie ein mittelalterlicher Fürst, hat zwar kein Problem damit, als Bauunternehmer einer ziemlich profanen Tätigkeit nachzugehen, beim Geldausgeben dann aber doch aus dem Vollen zu schöpfen und das Thema Schulden als seiner nicht würdig abzutun.

Aussprechen des ewig Unausgesprochenen

Giuliano, dem jungen Herrn aus Neapel, wird vom Vater die strenge Erziehung im Benediktinerkloster anbefohlen, um später die Firma zu übernehmen und die Familie zu erhalten, aber es gibt dann nicht viel zu übernehmen, außer Standesdünkel, die im aufkommenden Faschismus in den 1920er Jahren wenig fruchten.

Andrea Giovenes Erzählstil hat etwas vom Prunk eines Gabriele d’Annunzio, ohne dessen Parfümiertheit und Kitsch allerdings, sowie von der Detailbesessenheit eines Marcel Proust, ohne dessen tiefenpsychologische Tauchgänge. Es ist ein Ausleuchten des Vergangenen, ein Begreifen des Geschehenen, ein Beharren auf Eindeutigkeit und damit auf das Aussprechen des ewig Unausgesprochenen, was ja bekanntermaßen der Kitt vermeintlich bedeutungsvoller Familien ist. Dadurch, dass Giovene nicht aus der Ichperspektive erzählt, sondern dieses Ich als Giuliano di Sansevero verkleidet, hat er die Freiheit, einerseits aus eigener Erfahrung und Anschauung zu schreiben und andererseits Distanz herzustellen und die inneren Brüche herauszuarbeiten, mit der diese Figur leben muss.

Service

Andrea Giovene, " Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero", Band 1: "Ein junger Herr aus Neapel", aus dem Italienischen von Moshe Kahn, Galiani Berlin.