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Belarus: Wenn Dystopien lebendig werden
Das belarussische Staatsfernsehen agitiert in Hass-Sendungen gegen jeden, der nicht hinter Machthaber Lukashenka steht. Verhaftungen finden willkürlich statt; gefoltert wird im Verborgenen. Orwells Dystopie "1984" - in Belarus ist sie Wirklichkeit geworden.
17. November 2023, 14:30
Anfang Oktober 2022. Ich sitze gerade am Skript zu den „Gedankenverbrechen", als ich erfahre, dass Natalia Dulina - eine meiner Hauptprotagonistinnen - verhaftet worden ist. Erst kürzlich hatten wir darüber gesprochen. Sie meinte, das könne jederzeit passieren, doch sie wolle weder das Land verlassen noch sich den Mund verbieten lassen. Die Dozentin für Italienisch hatte ihre Professur an der Linguistischen Universität Minsk im Herbst 2020 verloren, weil sie an friedlichen Protesten gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen teilgenommen und sich für die Studierenden eingesetzt hatte, die ebenfalls demonstriert hatten.
Bereits am Tag ihrer Kündigung durch die Geschäftsführung der Uni war sie festgenommen worden - kaum dass sie das Territorium der Hochschule verlassen hatte. Als sie nach 14 Tagen wieder freikam,berichtete sie mir von ihren Erlebnissen im Gefängnis. So haben wir uns kennengelernt, und seitdem regelmäßig unterhalten. Sie wurde später noch mehrfach festgenommen - wegen sogenannter Ordnungswidrigkeiten, wie zum Beispiel der Teilnahme an einer Antikriegsdemo nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.
Natalia Dulina hat mir von den katastrophalen Haftbedingungen berichtet, aber auch vom Zusammenhalt der politischen Gefangenen hinter Gittern. Und sie wollte unbedingt, dass die Menschen im In- und Ausland davon erfahren.
„Beihilfe zu einer extremistischen Tätigkeit“
Anfang Oktober 2022 sind es mindestens sechs Mitglieder der Spezialkräfte des Innenministeriums, die mit Schutzwesten und Helmen vor Dulinas Tür erscheinen, um die zierliche Frau mitzunehmen. Dieses Mal geht es um ein Strafverfahren, unter anderem wegen „Beihilfe zu einer extremistischen Tätigkeit“. Damit sind Interviews mit unabhängigen belarussischen Medien gemeint, die seit Sommer 2021 allesamt als extremistische Organisationen gelten und inzwischen aus dem Exil arbeiten. Im Land selbst gibt es keinen unabhängigen Journalismus mehr - wer nicht rechtzeitig geflohen ist, wurde nach und nach verhaftet.
Nach sechs Monaten U-Haft findet im März dieses Jahres die Gerichtsverhandlung im Fall Dulina statt - hinter geschlossenen Türen. Die Anwälte müssen die üblichen Schweigepflichtserklärungen unterzeichnen. Die Urteilsverkündung selbst ist öffentlich, doch kaum jemand erscheint. Zuletzt sind bei solchen Terminen immer wieder Menschen aus dem Publikum verhaftet worden.
Von Zeugen erfahre ich, dass sich Natalia Dulina während der Urteilsverkündung in einem Käfig befunden hat. Sie konnte nicht winken, ihre Hände waren mit Handschellen hinter dem Rücken fixiert. Sie hat dem Publikum zugelächelt. Es gab keine Gelegenheit für ein letztes Wort. Das Urteil: drei Jahre und sechs Monate Haft in einer Strafkolonie.
Totale Kontrolle über die Bevölkerung und ihre Gedanken
Das Kalkül der Machthaber: Durch Verbreitung von Angst und Schrecken alle Kritikerinnen und Kritiker zum Schweigen bringen. Freie Meinungsäußerungen und unabhängige Informationen sind nicht mehr möglich. Was bleibt, sind die täglichen Hasssendungen der staatlichen Medien, die sich offenbar bemühen, George Orwells düstere Zukunftsvision zu übertreffen.
Nicht nur der Schnurrbart von Machthaber Alexander Lukaschenko erinnert an Orwells Roman 1984. Es ist der Versuch, totale Kontrolle über die Bevölkerung und ihre Gedanken zu erlangen. Der Aufstand gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl von 2020 hat deutlich gezeigt, dass die Menschen das System nicht länger ertragen wollen. Doch der in drei Jahrzehnten aufgebaute Sicherheitsapparat Lukaschenkos hat die friedlichen Demonstranten mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Nun soll die totale Kontrolle auch die Gedanken der Menschen erfassen. Über Natalia Dulinas Verbleib war seit dem Prozess nichts mehr zu erfahren.
Gestaltung: Inga Lizengevic