Da capo: Im Gespräch

"So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein!" In memoriam Christoph Schlingensief. Michael Kerbler im Gespräch mit Christoph Schlingensief,
Aktionskünstler, Film-, Theater- und Opernregisseur

Nein, er hat es sich nie leicht gemacht. Weder mit Gott, noch mit der Welt. Und schon gar nicht mit der Theaterwelt: Christoph Schlingensief.

Er war ein großartig begabter Unruhestifter. Ein Provokateur, also einer, der mit seinen Handlungen herausfordert, mich dazu anregt, über die präsentierten Inhalte - ob am Theater, im Film oder in Operninszenierungen - nachzudenken. Christoph Schlingensief war einer, der sich am Tun, am Machen und Umsetzen erfreut: im besten Wortsinn also ein Dilettant. Aber ein genialer Dilettant. Schlingensief ist es gelungen, mit und durch seine vielfältige Tätigkeit etwas wieder zu erringen, das der Kunst manchmal fehlt: deren Unschuld. Und noch etwas gelang dem Künstler, nämlich ein Diktum Theodor Adornos einzulösen: Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.

Bewundernswert war seine Konsequenz, seine Unnachgiebigkeit, die bis in die Selbstgefährdung reichte. Als wir vor mehr als einem Jahr wieder einmal zusammensaßen und lange über sein Afrika-Projekt sprachen, habe ich Schlingensief gefragt, ob die Infektionsgefahr für ihn in Afrika nicht zu groß sei. "Klar", antwortete er, "ich weiß, eine Lungenentzündung kann schlimm enden." Soll heißen tödlich. Denn Christoph Schlingensief hatte nur noch einen Lungenflügel. Aber sein Opernhausprojekt in Burkina Faso, das wollte er verwirklicht sehen. Dass die Metastasen aus dem Lungenflügel verschwunden waren, bezeichnete er damals in Ouagadougou als "Wunder", als "Geschenk". Aber er fügte hinzu: "Das ist ein Aufschub, um das hier noch durchzuziehen."
Er hoffte, noch mehr Zeit zu haben. Hoffte auf vollständige Genesung. Und sprach doch ab und an davon, das Gefühl zu haben, dass ihm zwei oder drei Jahre zur Verfügung stünden.

All die Fragen, die ihn nach seiner Operation und Chemotherapie zwei Jahre davor in der Klinik beschäftigt hatten, stellten sich im Frühjahr mit unerbittlicher Härte erneut. Wer hat Schuld an dieser Art von Freiheitsberaubung? Und warum ich und nicht irgendein Arschloch, wie zum Beispiel ein Waffenhändler? Welche Verpflichtung habe ich gegenüber meinen Mitmenschen?

Seine Fragen formulierte Christoph Schlingensief laut - vom Tag der Diagnose an - und sprach sie in ein Diktiergerät. Daraus entstanden ist mehr als ein Tagebuch, nämlich eine Chronik, die alle essenziellen Aspekte berührt, die in dieser Grenzsituation aufbrechen können: jene nach dem Sinn des Leidens, nach der Tragfähigkeit des Glaubens, nach dem Auftrag, der einem gegeben ist, und die Verpflichtungen, die von früheren Generationen übernommen und an nachfolgende Generationen bestmöglich zu übergeben sind. Und zwar ohne diesen Generationen die Welt als Müllhalde zu hinterlassen.

Das Gespräch kreist um genau jene Fragen beziehungsweise um das Wie der Umsetzung des Lebenswerts: Projekte am Theater, Vorhaben in Afrika, Hilfestellung für Krebspatienten via Internet. Christoph Schlingensief ist am vergangenen Samstag in Berlin seinem Krebsleiden erlegen.

Service

Christoph Schlingensief, "So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein! - Tagebuch einer Krebserkrankung", Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln

Matthias Lilienthal und Claus Philipp, "Schlingensiefs Ausländer raus. Bitte liebt Österreich", Collagenbuch im Taschenbuchformat, Suhrkamp Verlag

David Shields, "Das Dumme am Leben ist, dass man eines Tages tot ist - eine Art Anleitung zum Glücklichsein", C. H. Beck-Verlag, München

Reimer Gronemeyer, "Sterben in Deutschland - wie wir dem Tod wieder einen Platz in unserem Leben einräumen können", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main

http://www.schlingensief.com/ISchlingensief
Geschockte Patienten
Kiwi-Verlag

Hinweis
Die für heute geplante Sendung mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Eugen Kogon über die "verwaltete Welt", in der das Individuum kaum einen Spielraum mehr hat, um das existenzielle Bedürfnis nach innerer Freiheit, also nach Selbstverwirklichung, umzusetzen, wird im Dezember ausgestrahlt.

Sendereihe