Gedanken für den Tag

"Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah - zum 90. Geburtstag von Paul Celan" von Lydia Koelle

Lydia Koelle ist Professorin für Systematische Theologie am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaft der Universität Paderborn.

Paul Celan hat seine Gedichte einmal als Geschenke an die Aufmerksamen bezeichnet. Sie sind ein verzweifeltes Gespräch, ausgerichtet auf einen ebenso realen wie utopischen Gesprächspartner. 1920 als Paul Antschel und Sohn jüdischer Eltern, die in der Shoah ermordet wurden, in der Bukowina geboren, gilt Paul Celan als einer der bedeutendsten Lyriker der Nachkriegszeit.

Die theologische Begegnung mit Celan führt fast zwangsläufig zur Theodizeefrage und zum Problem des Gottesverständnisses nach Auschwitz, denn die Vernichtung der Juden durch die Nazis ist das historische Datum, von dem Celans Dichtung sich herschreibt. Die deutsche Theologin Lydia Koelle will aus dem Werk Celans nicht einfach eine theologische Theorie herausdestillieren, aber die Traditionen benennen, in denen Celan in der Auseinandersetzung mit den religiösen Überlieferungen von Judentum und Christentum seinen geistigen Standpunkt bestimmt. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

"Reite für die Treue!" Diesen Vers aus dem 45. Psalm erwog Paul Celan an seinem 45. Geburtstag, dem 23. November 1965, als Motto für den ersten Zyklus seines damals entstehenden Gedichtbandes "Fadensonnen" (GW 2/109-227).

"Reite für die Treue!", diese Selbstaufforderung hatte vor ihm der Philosoph Franz Rosenzweig in hebräischen Buchstaben seinem berühmten Buch "Der Stern der Erlösung" von 1919 als Leitspruch vorangestellt. Celan orientiert sich an Martin Bubers Verdeutschung des 45. Psalms, wenn er das hebräische emeth nicht mit "Wahrheit", sondern mit "Treue" übersetzt; Emeth ist nach biblischem Gebrauch nicht die Besiegelung einer Eigenschaft, sondern ein Tatwort: Wahrheit erweist sich im Tun, nicht im Sein.

Franz Rosenzweig, so sein geistiger Weggefährte Martin Buber, habe es sich versagt, auch die vorstehenden Verse "Dein Glanz ists: / dringe durch!"als Motto seinem Hauptwerk voranzustellen, das Rosenzweigs Rückkehr zum Judentum besiegeln sollte. Rosenzweig habe das "Dringe durch" weggelassen, da ihn ja das Buch "ins Leben" führen sollte, "ein Mensch aber ein Glücken, ein Gelingen, ein Heil sich selbst als Lebendem nicht zusprechen dürfe, sondern nur eben posthum (...): Das einzig wahre 'Durchdringen' ist, wenn der Tod eines Menschen in Wirklichkeit seine Vollendung bedeutet."

Die Wahrheit des Glaubens muss bewährt werden. Rosenzweig habe diese Wahrheit, so Buber, auch in den acht Jahren seiner schweren Krankheit bewährt: "Am ganzen Leib gelähmt, ritt er für die Sache der Treue."

Warum greift Celan dieses Psalmwort in der Nachfolge Rosenzweigs auf? Im dritten Teilband vom "Stern der Erlösung" datierte er seine Lektüre auf den 29. September 1965. Sein Sich-Aufbäumen und Standhalten - zusammen mit seiner nichtjüdischen Familie - gegen den Vorwurf von Claire Goll, Celan habe Gedichte ihres Mannes plagiert, war für Celan ein "jüdischer Kampf", denn dass diese Anschuldigungen im deutschen Literaturbetrieb begierig aufgegriffen wurden, ohne ihn vollständig und dauerhaft zu rehabilitieren, wertete Celan als versteckten Antisemitismus. So hatte er in einem Brief an seine Frau vom 26. Oktober 1965 seine Rückreise von einem Arbeitsaufenthalt in Frankfurt "gewissermaßen als die Rückkehr des Kriegers - des jüdischen Kriegers" bezeichnet.

Die Treue und die "gebeugte Wahrhaftigkeit", für die Celan kämpferisch eintreten wollte, bezogen sich auf sein Werk, das die Wahrheit der Vernichtung wie die Wahrheit der Vernichteten bezeugen wollte. Es war ein "Kampf ums 'Stehen' und 'Bestehen' im 'Wahren' und 'Unwiderlegbaren'".

Service

Buch, Martin Buber, Für die Sache der Treue (Ende 1929). In: Ders., Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, Köln 1963
Buch, Elke Günzel, Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext, Würzburg 1995
Buch, Paul Celan. Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer "Infamie". Zsgestellt, hg. u. komm. von B. Wiedemann, Frankfurt/M. 2000
Buch, Paul Celan - Gisèle Celan-Lestrange, Briefwechsel, Hg. u. komm. von B. Badiou in Verb. mit E. Celan. Band I: Briefe. Band II: Kommentar, Frankfurt/M. 2001

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