Radiokolleg - Der Menschenkenner

Alfred Adler und die Individualpsychologie (1). Gestaltung: Marlene Nowotny

Der Minderwertigkeitskomplex, die Lebensstilanalyse, die Psychosomatik - die Auseinandersetzung mit diesen Themen geht auf den österreichischen Psychiater Alfred Adler zurück. In der frühen Zeit der Psychoanalyse, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ist Adler ein geschätzter Kollege Sigmund Freuds und gerngesehener Diskutant in der sogenannten "Mittwochsgesellschaft". Doch Alfred Adler stellt Freuds Triebtheorie und die Dreiteilung des "psychischen Apparats" in Ich, Es und Über-Ich infrage. 1911 kommt es zum Bruch mit Sigmund Freud.

Alfred Adler begründet in der Folge die Individualpsychologie, deren Name auf die Unteilbarkeit und Einzigartigkeit des Individuums verweist. Er stellt den Menschen als soziale Ganzheit ins Zentrum seiner Theorien. "Er war der erste Mann, der sich Freud widersetzte. Was er damit erreichte, war nicht weniger als das Erringen einer kopernikanischen Wende. Der Mensch konnte nicht länger als Produkt und Opfer von Instinkten angesehen werden", so kommentiert der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl die Ablösung von Freud und den Beginn der Individualpsychologie.

Der Mensch als "Gemeinschaftswesen" steht im Mittelpunkt der individualpsychologischen Betrachtung. Das Individuum arrangiert sich mit seinem sozialen Umfeld, setzt sich mit seinen Wünschen und deren Hindernissen auseinander. Wenn diese Anpassung nicht gelingt, kann es zu psychischen Erkrankungen kommen. "Wir treiben mit diesen Untersuchungen Menschenkenntnis, eine Wissenschaft, die kaum sonst irgendwie gepflegt wird, die uns aber als die wichtigste und für alle Schichten der Bevölkerung unerlässliche Beschäftigung erscheint", erläutert Alfred Adler 1927. In dieser Zeit beschäftigt er sich intensiv mit Ideen der Prävention und Pädagogik. Er baut in Wien zahlreiche Erziehungsberatungsstellen auf und berät Lehrer von verhaltensauffälligen Kindern.

1934 emigriert Alfred Adler mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten. Die Individualpsychologie als tiefenpsychologisch-analytische Schule und seine pädagogischen Theorien finden dadurch, und wegen seiner zahlreichen Vortragsreisen, auch außerhalb des deutschsprachigen Raums eine breite Anhängerschaft.

Interviewpartner/innen:
Almut Bruder-Bezzel, Individualpsychologin, Berlin
Jürg Rüedi, Pädagoge und Individualpsychologe, Fachhochschule Nordwestschweiz, Aarau
Margot Matschiner-Zollner, Präsidentin des Österreichischen Vereins für Individualpsychologie, Wien
Wilfried Datler, Leiter der Forschungseinheit für psychoanalytische Pädagogik, Universität Wien/Präsident der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie, Wien
Christine Rosche, Pädagogin und Individualpsychologin, Wien

Service

Manès Sperber: Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie. Molden: 1970
Alfred Adler: Schriften zur Erziehung und Erziehungsberatung (1913 - 1937). Herausgegeben von Wilfried Datler, Johannes Gstach und Michael Wininger. Vandenhoeck & Ruprecht: 2009
Alfred Adler: Menschenkenntnis (1927). Herausgegeben von Jürg Rüedi. Vandenhoeck & Ruprecht: 2007
Alfred Adler: Wozu leben wir? Fischer: 2006
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter (1912). Herausgegeben von Karl Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel und Rolf Kühn. Vandenhoeck & Ruprecht: 2008
Alfred Adler: Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe Schriften (1904-1912). Herausgegeben von Almut Bruder-Bezzel. Vandenhoeck & Ruprecht: 2007
Zeitschrift für Individualpsychologie (34. Jahrgang, 1/2009): Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie. Vandenhoeck & Ruprecht

Sendereihe