Gedanken für den Tag

5. Dezember 2011, 06:56

Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein Dorf. Um Gott auf der Erde zu empfangen, müssen die Menschen zusammenarbeiten. Wenn viele den Himmel hochhalten, wird keiner müde, heißt es in Sprichwörtern. Hedwig Pirker-Partaj ist Pfarrerin der evangelischen Gemeinde in Leonding und Autorin des Kalenders "Schatzsuche", der (Bibel-)Texte für jeden Tag hinterfragt. In den "Gedanken für den Tag" in der zweiten Adventwoche erzählt sie ungewöhnliche Familien- und Menschheitsgeschichten - von der Zeit Jesu bis heute.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Stammbaum

Ich habe mir einmal vorgenommen das Neue Testament von vorne bis hinten durchzulesen. Aber gleich zu Beginn wurde ich in meinem Eifer gebremst: Das Neue Testament beginnt nämlich -  wenig spannend - mit der Aufzählung der Vorfahren des Jesus von Nazareth. Dabei werden fast nur Männer genannt, nur ab und zu tauchen Frauennamen auf. Und gerade deren Geschichten hören sich auch ziemlich furchtbar an. Außerdem ist mir aufgefallen: Hier wird in vielen Versen versucht, darzulegen, dass Jesus von Abraham abstammt - aber der Stammbaum geht über Josef - und gab es da nicht die Geschichte von der Jungfrauengeburt? - Fragen, offensichtliche Widersprüche, plumpes Patriarchat und auch viele grausame Geschichten. Ich habe die Erfahrung gemacht: Bibellesen ist kein gemütlicher Spaziergang auf vorgegebenen Wegen sondern ein Weg, der auch durch ein Dickicht führen kann. Bibellesen heißt für mich aber auch, mich auf eine Schatzsuche zu begeben. Und es gibt tatsächlich Schätze zu finden - auch in diesem ziemlich öd wirkenden Stammbaum von Jesus, seiner Herkunftsfamilie. Besonders imponiert mir dabei die Ehrlichkeit und Offenheit. Hier wird nicht retuschiert, was nicht schön ist. Unter seinen Vorfahren gab es viele schwarze Schafe: Betrüger; Ehebrecher, Intriganten, Freier, Prostituierte... Und auch die Eltern von Jesus: Maria und Josef, die konnten ihm nicht einmal ein geborgenes Nest bieten. Für mich heißt das alles: Jesus kommt nicht aus einer Hochglanzfamilie, auch er hat unter Altlasten seiner Vorfahren zu leiden und selbst als Erwachsener noch Probleme mit seiner Familie, und trotzdem war er ein Mensch, der die Liebe gelebt hat. Gott offenbart sich also nicht nur in der heilen Welt, sondern im Menschlichen, wo es immer auch Brüche und Sprünge gibt. Ein Gedanke, der mir Mut macht.

Service

Buch, Hedwig Pirker-Partaj, Schatzsuche. Kalender für das ganze Jahr von Dezember bis November, Verlag Ennsthaler

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