Gedanken für den Tag

von Matthias Hartmann. "Wechsel und Veränderung"

Aus dramatischer, philosophischer und aus sehr persönlicher Sicht denkt Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann in den "Gedanken für den Tag" zum Jahreswechsel über Zeiten der Veränderung nach. Motive dafür liefern ihm auch die Stücke, die gerade auf dem Spielplan des Wiener Burgtheaters stehen - ebenso wie die, mit denen er sich in Hinsicht auf kommende Inszenierungen gerade beschäftigt.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Wenn wir von Wandel und Veränderung und ihrer Manifestierung im Drama reden, führt kein Weg an Shakespeare vorbei. Sein Werk beleuchtet wie kein anderes gesellschaftliche und soziale Transformationen und ist selbst, wenn es viktorianische Themen und Geschichten verhandelt, "maximal modern". Heute Abend kann man in der Burg wieder meine jüngste Shakespeare-Inszenierung sehen, "Was ihr wollt". Das Stück ist angesiedelt im fiktiven Herzogtum Illyrien, in dem die Uhren etwas anders gehen. Es ist ein Land der Muße und des Spiels, wo weder regiert, noch gearbeitet wird. Die Menschen leben für die Musik und den Wein, für selbsttäuschende Sehnsüchte und, vor allem für die Liebe, die sie immer wieder in schwärzeste Melancholie stürzt. "Ohne Illusion", hat Oscar Wilde einmal geschrieben, "gibt es kein Illyrien." Eine Figur, die die soziale Veränderung, den gesellschaftlichen Aufstieg anstrebt, interessiert mich ganz besonders: der aalglatte Haushofmeister Malvolio, der allen Ernstes glaubt, Gräfin Olivia könnte ihn heiraten und auf diese Weise zum Grafen machen. Dieser Malvolio, Puritaner durch und durch, ist in jeder Hinsicht das Gegenstück zur illyrischen Utopie. Er steht für Disziplin und Hierarchie, empfindet offenkundig Lust an willkürlicher Herrschaft über andere Menschen. Muße und Lebensfreude sind ihm bloße Zeitverschwendung. Als Puritaner ist er ein typischer Vertreter der politisch-religiösen Bewegung des englischen Bürgertums und der Ideologie des Frühkapitalismus. Während der Proben zu "Was ihr wollt" hat mich gerade dieser historische Hintergrund der Figur fasziniert. Malvolio wirkt wie eine Präfiguration des Puritanerführers Oliver Cromwell, was kaum Zufall sein kann. Denn etwa vierzig Jahre nach der Uraufführung von "Was ihr wollt" übernahm Cromwell die Macht in England, ließ den König hinrichten und eben jene Theater schließen, an denen Shakespeare sein Publikum verzaubert hatte. Der Autor gibt den Haushofmeister wohl auch deshalb der Lächerlichkeit preis, um dieser lustfeindlichen Perspektive etwas entgegenzusetzen. Shakespeares Position ist die des Narren Feste, der wie ein obdachloser Schauspieler durch die Welt zieht. Dieser Narr singt unbeirrbar an gegen die drohende puritanische Revolution - und, maximal modern, für die Freiheit der Kunst.

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Titel: GFT 111229 Gedanken für den Tag / Matthias Hartmann
Länge: 03:49 min

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