Gedanken für den Tag

von Michael Chalupka. "Die Welt ist nicht die Welt nur eines Menschen". Ein Jahr nach Fukushima. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Vor einem Jahr, kurz nach dem Atomunfall in Fukushima, hat Michael Chalupka, der Direktor der evangelischen Hilfsorganisation Diakonie, Japan besucht. In den "Gedanken für den Tag" erzählt er von seinen persönlichen Eindrücken und Erfahrungen, vom Verlust der Unbeschwertheit, von kleinen Zeichen dafür, dass das Leben weitergeht, von Partnerschaften über Länder und Kontinente hinweg, die sich gerade in Krisenzeiten als tragfähig erweisen und von der Einsicht, die ein japanisches Sprichwort beschreibt: "Die Welt ist nicht die Welt nur eines Menschen".

Perfektion
 
Es ist meditativ, dem Gärtner hoch oben im Geäst der Pinie zuzusehen wie er einzelne Nadeln, die trocken zu werden drohen, vom Baum zupft. Der Garten des Ryoan Tempels in Kyoto soll perfekt aussehen. Erst da fällt mir auf, dass auf den Wegen keine welken Blätter liegen. Auch sie werden von Hand entfernt.

Der japanische Drang zur Perfektion trägt religiöse Züge. Japanische Kunst strebt ästhetische Harmonie und handwerkliche Perfektion an. Wer die Kunst der Kalligraphie oder der Keramik erlernen will, muss sich auf eine mehrjährige Lehre einstellen. Kreativität ist erst als Folge der Perfektion möglich. Auch im Alltag ist der Drang zur Vollkommenheit angenehm spürbar. Die Züge fahren auf die Minute pünktlich. Die Fahrgäste stehen in exakt geordneten Warteschlangen auf dem Bahnsteig, die Schaffner verneigen sich beim Betreten des Abteils.

Das Chaos kam - so empfand es Japan bislang - immer von außen. Am eindrücklichsten durch den Atombombenabwurf in Hiroshima. Der Bürgermeister der Stadt wies darauf hin, dass an die Opfer von Hiroshima nicht erinnert werden kann, ohne an die Evakuierten von Fukushima zu denken. Und er forderte den Ausstieg aus der Atomenergie. Die Katastrophe von Fukushima war selbstgemacht. Die Wucht des Tsunami war falsch berechnet, die Gefahren der Atomkraft waren sträflich unterschätzt worden. Die Bemühungen um Perfektion haben versagt. Die atomare Katastrophe in Fukushima hat das Land in eine tiefe Identitätskrise gestürzt. Der Glaube an das Perfekte ist erschüttert.

Die meisten Japaner, mit denen ich während meiner Japan-Reise gesprochen habe, sind mittlerweile für einen Ausstieg aus der Atomenergie und nennen Österreich als Vorbild. Es wäre ein guter Tausch. Die Japaner lernen von unserer Skepsis gegenüber allzu Perfektem. Und wir lernen von ihnen, dass manches doch mit größerer Präzision von statten gehen könnte.

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Titel: GFT 120313 Gedanken für den Tag / Michael Chalupka
Länge: 03:49 min

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