Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Frühling - immer wieder gelingt es". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Die Natur und der Mensch, das Leben und die Liebe - im Frühling scheint alles noch einmal ganz neu zu beginnen; sogar in der Politik steht "Frühling" für einen Neubeginn. Und Gedichte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart sind voll von Frühlingsdüften, erstem Vogelzwitschern und neuen Hoffnungen oder, wie ein Gedicht von Eugen Gomringer beginnt: "Frühling - immer wieder gelingt es".

Spitzhackig schlägt der März
Das Eis des Himmels auf.
Es stürzt das Licht aus rissigem Spalt,
Niederbrandend
Auf Telegrafendrähte und kahle Chausseen.

Der Anfang von Peter Huchels Gedicht "Landschaft hinter Warschau" hat nichts von den gängigen sanften Frühlingsbildern - hier bricht der Frühling mit Gewalt ein. Licht, das aus dem Himmel hervorbricht, da ist ein Anklang an religiöse Offenbarungen, an Epiphanien des Göttlichen nicht zu überhören. Aber gleich wird er wieder zurückgenommen. Denn die folgenden Verse sagen von diesem Licht:

Am Mittag nistet es weiß im Röhricht,
Ein großer Vogel.
Spreizt er die Zehen, glänzt hell
Die Schwimmhaut aus dünnem Nebel.

Peter Huchels Gedicht hat viele Schichten und ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Sein Beginn bewahrt jedenfalls etwas vom Überwältigt-Werden durch den Frühling, von seiner bedrohlichen Ambivalenz. Nikolaus Lenau hat diese Erfahrung schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seinem Gedicht "Frühling" zum Ausdruck gebracht:

O Lenz, du holder Widerspruch:
Ersehnte Ruh und Friedensbruch,
So heimatlich und ruhebingend,
so fremd, in alle Fernen dringend.

Auch bei Lenau hat der Einbruch des Frühlings etwas von einer religiösen Erfahrung: Das Frühlingsleuchten, das so wunderbar erscheint, ist für das Gedicht "In Gottes Herz ein offner Ritz". Und in der letzten Strophe stehen dann noch die Zeilen:

Ich wandle irr, dem Himmel nach,
der rauschend auf mich niederbrach.

Das Einbrechen des Frühlings ist eine Erfahrung, die den einzelnen übersteigt, die einen Menschen öffnen kann für den aufbrechenden Himmel. Das löst Enthusiasmus und unbändige Freude aus, aber es irritiert auch und schleudert einen aus den gewohnten Bahnen. Wenn ein neues Leben beginnt, ist nichts mehr wie vorher.

Service

Buch, Peter Huchel, "Chausseen, Chausseen", Fischer-Verlag
Buch, Walter Dietze (Hg.), "Lenaus Werke in einem Band", Aufbau Verlag

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Titel: GFT 120322 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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