Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell. "Manche kommen aus dem Staunen nicht heraus, manche nie hinein" - Zum 80. Geburtstag der Schriftstellerin Elfriede Gerstl. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Elfriede Gerstl, die als Kind mit ihrer Mutter vor den Nazis untertauchte und sich "tot oder schon deportiert stellte", hat im Kohlenkeller zu lesen begonnen, wenn die Sonne selten genug durch den kleinen Lichtspalt der Verdunkelung drang und die Nazis nicht mit Bajonetten nach ihr stocherten.

statt einem gebet
ein gedicht hersagen
für manche ein rettungsseil
in trauer und not

So endet ein Gedicht von Elfriede Gerstl. Mit den Gebeten hatte sie es nicht so. Denn Religion war ihr suspekt. "Jeder Gläubige reizt meinen Widerspruch", schrieb sie einmal. Wobei sie mit den Gläubigen sicher nicht nur religiöse Menschen gemeint hat, sondern alle, die in fixen Denkgebäuden und Weltanschauungen leben. "antworten, wieso Antworten, dass ich nicht lache", heißt es in ihrem einzigen Roman "Spielräume". Elfriede Gerstl wollte Spielräume eröffnen und misstraute allen Doktrinen - auch denen der Avantgarde. Dieses Gegen-den-Strich-Denken, -Schauen, -Formulieren - das fasziniert mich immer wieder in den Texten von Elfriede Gerstl. Und eben die unaufgeregte Beiläufigkeit, mit der sie das macht.

Und ich frage mich, ob man denn nicht auch beiläufig religiös sein kann - ohne fixe Antworten, ohne Überzeugungen, die man pathetisch vor sich herträgt, aber mit jenem Staunen, das sich in Gedichten ausdrückt, aber manchmal auch in Gebeten. Vielleicht möchte ich ja beiläufig katholisch sein - ohne zu einer Kirche zu gehören wie zu einer Partei, ohne Ja-und Amen-sagen, aber aus einem dankbaren oder subversiven Sich-Wundern heraus. Kann man denn nicht katholisch sein und dennoch "ungläubig staunen", wie es so schön heißt?

Den Himmel offenhalten - das wäre doch ein gemeinsamer Impetus von Gedicht und Gebet, von Religion und Literatur; wenn die Religion nur nicht zu viel weiß von diesem Himmel und ihn nicht zu genau definiert. "mein himmel ist hier und jetzt", beginnt ein Gedicht von Elfriede Gerstl. Und einige Zeilen später schreibt sie:

mein himmel ist auch eine utopie
von einer gerechteren welt
in der einsicht und nachsicht
tägliche realität sein sollte
himmel ist das festgeknüpfte netz
ähnlich denkender und fühlender
und das glück
ihm anzugehören
wenn es noch einen anderen himmel
geben sollte
lasse ich mich überraschen

Service

Buch, Elfriede Gerstl, "Neue Wiener Mischung. Gedichte und anderes", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mein papierener Garten. Gedichte und Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Lebenszeichen. Gedichte, Träume, Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mittellange Minis. Werke Band 1", herausgegeben und mit einem Nachwort von Christa Gürtler und Helga Mitterbauer, Literaturverlag Droschl
Buch, Konstanze Fliedl, Christa Gürtler (Hg.), "Elfriede Gerstl", Literaturverlag Droschl
Buch, Christa Gürtler, Martin Wedl (Hg.), "Elfriede Gerstl. wer ist denn schon zu hause bei sich", Paul Zsolnay Verlag

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120613 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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