Da capo: Im Gespräch

"Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt." Michael Kerbler spricht mit Christoph Ransmayr, Schriftsteller

"Wer fragt, will Geschichten hören. Wer antwortet, erzählt." So lauten die ersten beiden Zeilen in Christoph Ransmayrs "Geständnisse eines Touristen", publiziert im Jahr 2004.

Tourist war Ransmayr nie, das belegen zwei seiner unverwechselbaren Wesensmerkmale: seine Art zu erzählen und seine Art zu reisen. Im "Atlas eines ängstlichen Mannes" befragt der Schriftsteller seine vielen Notizbücher. Den siebzig Episoden, die er vor dem Leser, der Leserin ausbreitet, stellt wieder einen Leitsatz voran: "Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt."

Der "Atlas" lässt den Verdacht aufkommen, dass es Ransmayr manchmal bei seinen Reisen an die Ränder der Welt so ergeht, wie einst seiner Romanfigur Joseph Mazzini in den "Schrecken des Eises und der Finsternis". "Er reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, dass er schließlich in ihr verschwand."

An 69 der siebzig Orte, die Ransmayr beschreibt, genauer, seine Erlebnisse, die ihm dort widerfahren sind, ist er tatsächlich gewesen. Der Atlas führt und entführt zu Inseln in der Südsee, an die chinesische Mauer, in einen kleinen Ort in Oberösterreich, ins arktische Packeis, hinauf auf die Passhöhen des Himalaya.

"Seine Erzählungen", so formulierte es einmal der Bergsteiger Reinhold Messner, der mit Ransmayr oft gemeinsam unterwegs war, "... sind wahrer als die Wirklichkeit. Sie reichen nämlich über die erlebte Wahrheit hinaus." Und der Schriftsteller bestätigt Messner und ergänzt: "Der Unterschied zwischen dem Erzählten und der tatsächlichen, also historischen Geschichte ist immer einer, der im Nachhinein aussieht, als ob das, was wirklich war erst in der Geschichte in vollem Umfang klar wird. Und insofern scheint die erzählte Geschichte manches Mal klarer als die verwirrende, konfuse oder auch unerträgliche tatsächliche Geschichte."

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels geboren, wuchs in der Nähe von Gmunden am Traunsee auf, besuchte das Stiftsgymnasium der Benediktiner in Lambach und studierte Philosophie und Ethnologie an der Universität Wien.

Service

Christoph Ransmay, "Atlas eines ängstlichen Mannes", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main

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