Gedanken für den Tag

10. Dezember 2012, 06:56

Für die Ö1-Sendereihe "Gedanken für den Tag" hat der Schauspieler Joseph Lorenz Texte rund um den Advent und das jüdische Lichterfest Chanukka, das in dieser Woche gefeiert wird, ausgewählt.


Ein langer Tag für Morgenstern
von Mike Indgin

"Bleib stehen, alter Esel!" Die Frau im Cadillac stieg aufs Gas und vereitelte Morgensterns erneuten Versuch, sich in den Verkehr einzureihen.

Er versuchte seit 10 Minuten, vorzufahren, doch niemand wollte einen 80Jährigen in einem alten Ford vor sich. Es war erst 10 Uhr, aber er war schon von einem Geschäftsmann angebrüllt worden und er war fast von einer hastig schreitenden Mutter und ihrem Kinder-Buggy überfahren worden.

Morgenstern war natürlich nicht 80 Jahre alt. Er war nicht einmal ein Mensch. Er war ein Aklusianer. Ein hochrangiger aklusianischer Planeten- Beobachter, auf die Erde entsandt, um eine eventuelle Bedrohung für die aklusianische Kolonie auf dem Mars zu beurteilen. Bis dato deuteten alle Anzeichen auf "Ja".

Sollte sich herausstellen, dass Erdlinge vornehmlich auf Grundlage von Aggression agieren, würde er einfach niesen. Der in seinem System gestaute Virus war so konzentriert, dass die gesamte Erdbevölkerung innerhalb von Stunden tot sein würde. Er würde bis ans Tagesende mit seiner Entscheidung warten.

Plötzlich fing sein Auge eine flackernde Flamme auf. Morgenstern reckte den Kopf. Jemand hatte zwei Kerzen ins Fenster gestellt. Behutsam näherte er sich der Tür und läutete. Ein junges Mädchen öffnete die Tür. "Ich habe Ihre Kerzen im Fenster gesehen". "Das ist unsere Menora. Es ist heute erster Chanukka-Abend." "Chanukka?" "'Das Fest der Lichter'. Wir feiern den Sieg der Makkabäer über die Griechen".

Zwei Stunden, drei Portionen Hühnerbrust und ein Dutzend Latkes später wusste Morgenstern alles über Chanukka. Aber was ihn wirklich faszinierte war die Menora. "Man stellt sie also ins Fenster, um das Wunder publik zu machen?" Saras Vater antwortete ihm: "Und auch, damit jeder Passant das Licht sehen kann, das von der Freiheit kommt, und von der Wahrheit." "Welche Wahrheit?" "Dass man mit Licht die Dunkelheit vertreiben kann. Und dass am Ende das Gute siegt." Morgensterns Stimme wurde leise "Aber es gibt hier so viel Dunkelheit." Saras Vater nickte schwach. "Aber die Dunkelheit existiert nur, um in Licht gewandelt zu werden, glaube ich."

Kurz vor Mitternacht stand Morgenstern stramm vor dem aklusianischen Hochkommissariat. Die furchtlose Führerin Gloria sprach zu ihrem bevorzugten Planeten-Beobachter. "Wie lautet das Urteil über diese Erdenbewohner? Kriegsherren oder Friedensstifter?" "Sie sind mehr als Friedensstifter. Sie sind Lichtstifter."

Morgenstern schälte sich aus seinem menschlichen Hautanzug, salutierte und verließ den Saal.

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