Gedanken für den Tag

25. Oktober 2013, 06:56

Ernst Barlach bekannte sich zur prophetischen Sendung des Künstlers. "Meine Figuren wissen mehr als ich", hat er 1914 in einem Brief geschrieben. Seinen Beruf sieht er "in einer großen Leidenschaft, die doch immer das Absolute eines Glaubens hat." Doch dieser Glaube schreibt nicht vor, erklärt nicht und kann nicht erklärt werden. Mit den Worten einer seiner Dramen-Figuren bekennt Barlach: Gott: "ich begreife, dass er nicht zu begreifen ist, das ist all mein Wissen von ihm."

In der berühmten Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche in Berlin, nahe dem Kurfürstendamm, steht heute - in der Kapelle neben dem Turm - in schlichtem Rahmen auf dem Altar eine einfache Kohlezeichnung Barlachs, signiert und datiert vom 15. Mai 1915: "Christus am schrägen Kreuz". Ein dunkler Balken - und daran hängt Christus, Arme und Beine durch den Bildausschnitt abgetrennt. Dazu gibt es einen Text von Barlach, einen Dialog des Künstlers mit seinem Sohn; vor sich haben die beiden diese Zeichnung. "Sieht es nicht so aus, als ob er schwebt?", fragt der Vater. "Das nicht", antwortet der Sohn. "Er fliegt." Der Vater stimmt zu: "Ja, er und sein Kreuz hängen und fliegen im leeren Raum über alles hin."

Der Sohn möchte wissen, wo denn die Erde geblieben wäre. Wohl unten, vermutet er. "Kann schon sein, sagt der Vater, man weiß ja nicht, was man macht." Doch der Sohn drängt so lange auf eine Antwort, bis der Vater seine Deutung preisgibt: "Ich kann mir vorstellen, dass Christus am Kreuz hängt und im Angesicht der Erde fliegt und leiden muss, solange die Menschen bleiben, wie sie sind", meint der Vater. Und weiter: "Aber sie werden eher meinen, dass er sich endlich davonmachen möge, denn sie feiern bald ihr zweitausendjähriges Jubiläum, und das feiert sich ohne Zweifel bequemer ohne Christus als in seiner Gegenwart."

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